Das luxemburgische Esch, Kulturhauptstadt des Jahres 2022, steht in den Startlöchern und präsentiert in der neu eröffneten Konschthal ein ambitioniertes Kunstprogramm
ShareEsch-sur-Alzette darf sich im nächsten Jahr Kulturhauptstadt nennen – doch was bedeutet das für das bis jetzt kaum bekannte Städtchen? Im Jahr 1995 trug Luxemburg zum ersten Mal den Titel „Kulturhauptstadt Europas“, ein zweites Mal im Jahr 2007. Seitdem gedeiht in der Hauptstadt eine kleine, aber feine Kunst- und Kulturszene. Nun ist der Südwesten des Landes an der Reihe zu zeigen, was er zu bieten hat. Obwohl Esch mit seinen 36.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt und seit 2003 der Standort der einzigen Universität des Großherzogtums ist, wurde ihr in der Vergangenheit wenig Beachtung geschenkt. Esch2022 – das bedeutet nicht nur ein spannendes Kulturprogramm, sondern auch ein Weg in die Zukunft. Das Motto: „Remix Culture.“ Geplant sind über 160 Projekte mit rund 2000 Events. Ganz oben auf der Agenda von Direktorin Nancy Braun: Begegnungen ermöglichen, Integration fördern und den kulturellen Austausch anregen, sowohl innerhalb des Landes als auch mit dem Rest Europas. Partizipation soll dabei besonders im Fokus stehen.
Stahl verhalf dem Land zum Wohlstand
Dass Luxemburg seinen Reichtum nicht nur dem Banken- und Finanzwesen verdankt, ist kein Geheimnis – und doch wissen außerhalb des Landes um die Bedeutung der Schwerindustrie nur wenige Menschen. Durch den Erzabbau florierte die Region seit Ende des 19. Jahrhunderts. In Esch und seinen 18 umliegenden Gemeinden leben heute Menschen mit rund 120 verschiedenen Nationalitäten. Viele Arbeitssuchende aus ganz Europa immigrierten damals in die Region Südluxemburg und Lothringen. Sie wurden von der Stahlkrise in den Siebzigerjahren besonders hart getroffen.
Die Schwerindustrie hat viele Spuren im Stadtbild hinterlassen. Im Stadtteil Belval ragen die stillgelegten Hochöfen noch immer in die Höhe und erinnern an alte Zeiten. Esch2022 möchte die kulturelle Vielfalt zelebrieren, die das ganze Land trägt und prägt. Die Hauptstadt macht vor, wie es geht: Die Gruppenausstellung „Freigeister“ im Mudam präsentiert momentan stolz die Luxemburger Kunstszene. Das Casino, ein Forum für zeitgenössische Kunst, widmet sich in seiner Show „Stronger than memory and weaker than dewdrops“ von Karolina Markiewicz und Pascal Piron aktuellen Themen wie Kolonialismus und Integration, Entfremdung und Identität.
Kultur als Motor für Transformation
Der neuste Coup ist die Konschthal Esch, Luxemburgisch für „Kunsthalle“, deren Türen seit Oktober geöffnet sind. Anders als in Bilbao oder Arles hat man der Stadt keinen extravaganten Neubau aufgedrückt, sondern ein altes Möbelhaus als Standort auserkoren. Auf rund 2400 Quadratmetern und vier Etagen bietet sie eine Plattform für zeitgenössische Kunst, lokal und international. Direktor Christian Mosar hat die Halle im vergangenen Jahr komplett entkernt. Was für ein Glück, dass die dabei zum Vorschein gekommenen Betonwände und Stahlträger eine brutalistische Bunker-Ästhetik ausstrahlen, die momentan überall gefeiert wird. Etwas unscheinbar, aber mit einer großen Portion Underground-Charme fügt sich die Konschthal in das Stadtbild ein. Der Eintritt ist zurzeit noch kostenfrei.
Kaum waren alle Möbel weg, zog Gregor Schneider mit seinen „Räumen“ wieder ein. Der deutsche Künstler, geboren 1969 in Mönchengladbach-Rheydt, zeigte 2001 auf der Biennale in Venedig sein „Haus ur“ und löste mit Projekten wie dem „Sterberaum“ teils heftige Diskussionen aus. In Esch stellt er nun mit einer beachtlichen Auswahl aus seinem künstlerischen Gesamtwerk existenzielle Fragen rund um das eigene „Ich“. Welche Wirkung haben dreidimensionale Räume auf uns? Was fühlen wir, wenn wir durch fremde Zimmer laufen? Indem Schneider Räume aus ihrem privaten Kontext holt und neu anordnet, befreit er sie von ihrer Alltäglichkeit.
Im Fahrstuhl zum Schafott
Der „Ego-Tunnel“ beginnt vor der Klingel von „N. Schmidt“, ein fiktiver Nachbar des Künstlers. Der immersive Ausstellungsparcours startet in einem sterilen Aufzug. Die ersten beiden Etagen bilden die sich doppelnde Wohnung von N. Schmidt. Auf der dritten Etage befindet sich ein düsterer Keller und kurz fragt man sich, ob die Knöpfe im Aufzug richtig funktionieren. Die kleinbürgerlichen Zimmer wirken vertraut und verstörend zugleich. Beklemmende Räume, ein laufender Wasserhahn, ein Kinderzimmer ohne Fenster und immer wieder die gleiche Raufasertapete sorgen für ein mulmiges Gefühl im Bauch. Spätestens beim Betreten eines zimmergroßen Kühlraums macht sich auch die Gänsehaut bemerkbar.
In der Isolation erzählt der Künstler Geschichten von Identität, Transformation und Auslöschung. Neben seinen „Räumen“ gibt es Fotografien, Objekte, Filme und Skulpturen zu entdecken. Auf den Fotos ist oft er selbst zu sehen, aber auch Häuser aus der Region rund um seine Heimatstadt Rheydt, die mittlerweile vom Braunkohletagebau Garzweiler verschluckt worden sind. Die Thematik der „sterbenden Dörfer“ und den damit einhergehenden regionalen Strukturwandel verbindet das Werk von Gregor Schneider mit der Stadt Esch.
Die Kunsthalle ist Teil des langfristigen Plans, den Esch-sur-Alzette verfolgt. Mit Schneiders „Ego-Tunnel“, Ausstellungen von Filip Markiewicz und Jeppe Hein im nächsten Jahr, wird eine klare internationale Richtung eingeschlagen. So positioniert sich die Konschthal Esch, ganz im Sinne von „Remix Culture“, als Ort der allumfassenden Transformation.
Gregor Schneider – „Ego-Tunnel“
Konschthal Esch, Luxemburg
bis 9. Januar 2022
„Freigeister – Fragmente einer Kunstszene in Luxemburg und darüber hinaus“
MUDAM (Musée d‘Art Moderne Grand-Duc Jean), Luxemburg
bis 27. Februar 2022
„Stronger than memory and weaker than dewdrops“
Karolina Markiewicz und Pascal Piron
Casino Luxembourg – Forum d’art contemporain
bis 30. Januar 2022