Willi Sitte in Halle

Mit Picasso im Gepäck

Willi Sitte war allmächtig in der DDR und darum seit 1989 kaum noch zu sehen. Jetzt zeigt ihn eine Ausstellung in Halle als vielschichtigen Maler

Von Sebastian Preuss
30.11.2021
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 193

Bei allen Debatten und Streitereien um die Kunst in der DDR stand Willi Sitte immer im Mittelpunkt. Das war schon so, als der ostdeutsche Staat noch bestand, und erst recht erhitzte Sitte nach der Wiedervereinigung die Gemüter. Als Präsident des Künstlerverbands VBK (1974 bis 1988) war er omnipräsent. Nicht wenige sind ihm bis heute dankbar, dass in seiner Ägide mehr Geld für staatliche Aufträge und Kunstkäufe zur Verfügung stand und er die sozialen Bedingungen für die Verbandsmitglieder (das waren fast alle Künstler) verbesserte. Viele haben aber nicht vergessen, dass er sich an Repressalien gegenüber Nonkonformisten beteiligte und dabei sehr hart sein konnte.

Doch nicht nur Sittes Wirken als hoher Funktionär im Dienst von Staat und Partei ist umstritten. Genauso polarisiert seine Malerei. „Lieber vom Leben gezeichnet als von Sitte gemalt“ lautete ein gängiger Spruch im Volksmund. In der DDR hatten alle, die nur ein bisschen von der Kunst wahrnahmen, seinen unverwechselbaren Stil seit den späten Sechzigern vor Augen: üppig schwellende Arbeiter in der Fabrik, Nackte am Strand und in der Sauna, Paare beim Liebesakt, die Leiber üppig und schwer, mit expressiv flirrenden Pinselstrichen gemalt, sodass sie zu vibrierenden, oft ausfasernden Gebilden werden. Da ist viel Rubens drin, aber auch der späte Corinth. Sittes dampfender Neobarock überhöht die Werktätigkeit in der Industrie, beschwört die Solidarität gegen die bösen Mächte des Kapitalismus und stellt die Menschen in ihrem Privatleben als sinnenfrohe, lustvolle Zeitgenossen dar.

Sitte ist eben der Inbegriff sozialistischer „Staatskunst“, so lautet das Urteil seiner Kritiker. Darum war er seit 1989/90 kaum noch öffentlich präsent, in ostdeutschen Museen nicht und im Westen schon gar nicht. In einem Akt der Zensur vereitelte 2000 der Verwaltungsrat des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg sogar eine verabredete Ausstellung. Nach seinem Tod 2013 in Halle wurde es vollends ruhig um Sitte. Aber jetzt im Jahr des 100. Geburtstags bietet das Kunstmuseum Moritzburg in Halle, wo er seit 1947 gelebt hat, endlich die Möglichkeit, dass sich in einer großen Ausstellung jeder selbst ein Urteil bilden kann. Die Schau wurde fünf Jahre lang vorbereitet, viel Forschung dafür betrieben, Sittes Leben und Werk in einem monumentalen Katalog und einer neuen Biografie von Thomas Bauer-Friedrich und Paul Kaiser nach allen Regeln einer kritischen Geschichtsschreibung durchleuchtet.

Wie in den Büchern wird auch in der Ausstellung Sitte so gezeigt, wie er war – mit allen seinen Facetten und Widersprüchen: seine Karriere als erst eher nonkonformer, dann linientreuer Diener der Partei, die Mitarbeit in der Staatssicherheit, genauso die Zeit als junger Mann in einer NS-Elite-Kunstschule (wo er wegen unbotmäßiger Kritik herausgeworfen wurde), 1945 kurz vor Kriegsende die Flucht aus der Wehrmacht zu den italienischen Partisanen – was er, wie jetzt enthüllt wurde, sein ganzes Leben lang zu einem mehrmonatigen Widerstandskampf gegen die Faschisten aufblähte.

Vor allem aber zeigt die Ausstellung den ganzen Maler, so vielschichtig konnte man ihn noch nie sehen. Als er 1946 aus Italien zurückkommt, schult sich Sitte, der nie eine Akademie besucht hat, mit zart beseelten Porträts an den Renaissance-Zeichnern, an Historienbildern des späten 19. Jahrhunderts, an der Neuen Sachlichkeit, an Karl Hofer und vielem mehr. Alles ist sehr virtuos, aber er schwankt und probiert viel aus. Wichtig werden dann für ihn die französische Moderne mit Picasso und Léger, aber auch Tanguy und die Surrealisten. Was er in den Fünfzigern malt, mutet häufig wie von einem Pariser Künstler an und nicht von einem Hallenser während der doktrinärsten Phase des sozialistischen Realismus.

Im „Raub der Sabinerinnen“ von 1953 verbindet Sitte picassoide Figuren und „hochgeklappte“ Flächengetümmel mit einer Historienmalerei à la Jacques-Louis David. Berührend sind Arbeiter bei der Feierabendlektüre in einem moderaten Léger-Stil. Immer wieder versucht Sitte, seine modernen Experimente in den Dienst des DDR-Systems zu stellen, an das er glaubt. Doch wird er ständig des »Formalismus« bezichtigt. Die Partei übt viel Druck auf ihn aus, er gilt als unsicherer Genosse, der mit Kritik gegen die offizielle Kunstpolitik aufbegehrt. Es gibt interne Tribunale und sogar eine Vorladung zum Staatschef Walter Ulbricht in Berlin.

Im Februar 1963 übt Sitte Selbstkritik im Neuen Deutschland und bekundet seine Treue zur Partei. In den nächsten drei Jahren entwickelt er seinen pathetisch-prallen Stil, mit dem ihm der Aufstieg zum Repräsentanten des Staats gelingt. Es ist die große Zäsur in seinem Werk. Nachdem man viele spannende Bilder gesehen hat, auch noch nach der großen Stilwende zum sozialistischen Barock, fragt man sich irgendwann, wie sich Sitte wohl ohne diesen Bruch weiterentwickelt hätte. Auf einen Nenner ist er nicht zu bringen. 

Service

AUSSTELLUNG

„Sittes Welt“,

Kunstmuseum Moritzburg, Halle an der Saale,

bis 9. Januar 2022

kunstmuseum-moritzburg.de

 

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