Monumental und zart, tiefgründig und leer sind die Bildwelten von Toba Khedoori. Das Museum Fridericianum in Kassel bietet jetzt einen seltenen Einblick in das rätselhafte Schaffen der Kalifornierin
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04.01.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 193
Ein Bild vergleichen wir seit Leon Battista Albertis Traktat „Über die Malkunst“ von 1435/1436 mit einem geöffneten Fenster: Im rechtwinkligen Viereck erblicken wir einen Ausschnitt der Welt. Was aber, wenn das Fenster selbst zum Bild wird? Und wenn es gar nichts rahmt, sondern das Nichts umschließt und selbst vom Nichts umschlossen ist? Solche Gedanken drängen sich beim Betreten von Toba Khedooris Ausstellung im Kasseler Museum Fridericianum auf, wenn der Blick auf die Arbeit „Untitled (window)“ von 1999 fällt: Drei mit Wachs bearbeitete Papierbahnen füllen die gegenüberliegende Wand mit einer monumentalen beigen Fläche von sechs Metern Länge und mehr als dreieinhalb Metern Höhe. Nur die mittlere Bahn enthält eine Zeichnung aus Ölfarbe – ein schmales, frei von jeder Verankerung scheinbar in der Luft schwebendes Fenster, das durch einen horizontalen Steg in der Mitte geteilt wird. Es ist offenbar ein Fenster amerikanischer Bauart und würde gut in ein Gemälde von Edward Hopper passen. In diesem Gemälde würde eine junge Frau vor dem Fenster sitzen und hinaus in die Welt schauen. In Toba Khedooris Werk sitzt niemand vor dem Fenster, und in dessen Rahmen erscheint auch keine Welt, sondern nur eine blinde schwarze Fläche: Die Erzählungen dieser Künstlerin beginnen erst, wenn in Hoppers Bildern das Licht erlischt.
Die 1964 in Sydney geborene Khedoori, die seit mehr als dreißig Jahren in Los Angeles lebt, arbeitet mit ihren Zeichnungen und Malereien in der Tradition eines amerikanischen Realismus, der mit Hoppers cineastischem Blick seinen Anfang nahm und im Fotorealismus der Sechziger- und Siebzigerjahre in Bildern von Richard Estes, Ralph Goings oder Charles Bell zur Perfektion geführt wurde. So wie ihre Vorgänger misst auch Khedoori den kleinen Dingen des Alltags einen großen Wert bei und hält sie sehr präzise fest. Und doch sind ihre Werke nicht realistisch. Die leeren Flächen, die ihre Motive umgeben, leiten einerseits den Fokus der Aufmerksamkeit auf die abgebildeten Gegenstände, lassen diese aber andererseits unwirklich erscheinen wie Fata Morganas oder Visionen. Ebenso wichtig wie das, was man in den Bildern sieht, wird das, was man in ihnen nicht sieht: Eine Fußgängerbrücke ist mit großer Detailtreue wiedergegeben. Doch was überspannt sie? Eine Holzlatte lehnt an der Wand. Wer hat sie dort abgestellt? Und was befindet sich hinter dem hellen Loch, das in eine schwarze Wand gehauen wurde? Es sind diese narrativen Leerstellen in Khedooris Bildern, die von der Fantasie der Betrachter gefüllt werden müssen.
Zweifellos ist Khedoori eine konzeptuell denkende Künstlerin, die das Motiv als Statement zeigt und sogleich wieder infrage stellt. Tritt man näher an ihre Werke heran, erkennt man in den Wachsschichten, mit denen sie die Papierbahnen bearbeitet, eingeschlossene Staubkörner als Spuren der Zeit und des Arbeitsprozesses. Diese Indizien der Vergänglichkeit verleihen den eigentlich so monumentalen Bildern eine Aura der Fragilität, die wunderbar mit der Zartheit der Zeichnungen harmoniert.
Moritz Wesseler, Direktor des Fridericianums, arbeitet seit Jahrzehnten an einer Ausstellung mit Khedooris Bildern. Dass er nun 23 der selten reisenden Werke aus Museen und Privatsammlungen zur ersten Einzelschau in Deutschland versammelt, ist eine große Leistung. Zu sehen sind auch kleinere Ölmalereien auf Leinwand, die ab 2008 entstanden sind und ein ähnliches Maß an Ruhe und tiefgründiger Rätselhaftigkeit ausstrahlen wie die Papierarbeiten. „Untitled (branches 1)“ von 2011/2012 zum Beispiel zeigt schlicht ein Vielzahl miteinander verflochtener Zweige. Man kann das als Überlegung zur Verbundenheit der Dinge in der Natur sehen. Genauso gut kann man dieses Gewirr sehr lange betrachten und sich in den gemalten Strukturen verlieren. Um sich ihr schließlich restlos hinzugeben, dieser großen sinnvollen Stille.