documenta 15

„Lasst uns Freundschaften erschaffen“

Die documenta fifteen im Sommer wird ein Abenteuer: Geplant wird sie vom Kollektiv ruangrupa aus Jakarta, das auf die Stärke der Gemeinschaft setzt. Ein Vorab-Interview in Kassel

Von Tim Ackermann
05.01.2022
/ Erschienen in Kunstplaner 2022

Wer braucht schon Einzelbüros? Die nächste „Weltkunstschau“ wird gemeinsam vom Esstisch aus geplant: Das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa hat die künstlerische Leitung der documenta fifteen übernommen und im Kasseler Hauptquartier, dem „ruruHaus“, die Küche zum zentralen Arbeitsort ge­macht. Ein Laptop steht neben dem Kühlschrank, und wer hereinkommt, um sich einen Kaffee zu holen, wird sofort wahrge­nommen und freudig begrüßt. Obwohl ruangrupa in der westlichen Kunstwelt bisher als Geheimtipp galt, hat die Gemein­schaft von Künstlerinnen und Künstlern bereits Werke zu diversen Ausstellungen von der Aichi Triennale in Japan bis zur Biennale von São Paulo beige­steuert und ist in Teilen auch bei der heimischen Jakarta Biennale involviert. Eine große Stärke des in Kassel angetretenen neun­köpfigen Kollektivs ist die Kommunikation, die ständig im Fluss ist – auch beim Interview: In wechselnden Konstellationen sitzen stets zwei bis drei Ge­sprächspartner am Küchentisch.

Wer ist ruangrupa und wie hat das Kollektiv zusammen­gefunden?

Reza Afisina (RA) Wir haben unse­re Beziehungen während unse­rer Studienzeit in den Neunzigerjahren in Jakarta geknüpft, als wir gemeinsam Ausstellungen und Projekte organisiert haben. Als dann 1998 der Diktator Suharto zurücktrat und sein Regime endete, gehörten wir zur Studentenbewegung. Und es gab diese neue Euphorie zusam­menzuarbeiten …

Mirwan Anden (MA) … eine plötz­liche Offenheit!

RA Wir starteten ruangrupa, weil wir den Traum eines eigenen Orts hatten. Also mieteten wir Räume an. Und mussten dann ungefähr alle zwei Jahre wieder den Ort wechseln, denn Raum ist in Jakarta sehr begehrt. Wir dachten darüber nach, wie wir unser eigenes Support­-System schaffen könnten. Obwohl wir ganz unter­schiedliche Biografien hatten, brachten uns die Bedingungen in Jakarta dazu, gemeinsam zu agieren. Das war in unseren Köpfen bereits verankert, ohne dass wir den Begriff „Kollektiv“ gebraucht hätten.

ruangrupa Documenta
Eingeladen zur documenta fifteen sind auch zahlreiche Künstlerkollektive wie etwa Atis Rezistans, das in Port-au-Prince die Ghetto Biennale organisiert. Dort war 2013 das Werk „The Big Chair“ von Joe Winter zu sehen. © Multiversal Services/Lazaros

Sie haben sich nicht als Kollektiv definiert, Sie waren es einfach?

MA Wir haben uns als „Initiati­ve“ oder „Künstlerinitiative“ bezeichnet. Das Wort „Kollek­tiv“ ist in der indonesischen Kunstszene erst seit etwa zehn Jahren wirklich gebräuchlich. Die Idee und die Praxis waren aber stets vorhanden, die wir „lumbung“ nennen – „lumbung“ ist das indonesische Wort für Reisscheune. An diesem Ort wird die überschüssige Ernte der ländlichen Gemeinschaft gelagert und gemeinsam verteilt.

Teilen Sie auch ein Kunstver­ständnis und eine Vorstellung, was Kunst bewirken soll?

RA Jede und jeder bei ruangrupa hat seine eigene künstlerische Praxis. Die Frage ist, was wir über unsere Eigenständigkeit heraus abgeben und zum Ge­meinsamen beitragen können. Die Kunst ist dabei nur der Startpunkt. Wichtiger ist, wie wir uns miteinander verflechten. Wie finden wir die Fähigkeiten, die wir in einem bestimmten Moment brauchen? Wenige von uns haben zum Beispiel eine Ahnung von indonesischer Historienmalerei. Aber vielleicht haben wir Freunde, die sie uns erklären können.

MA Wir sagen immer: „Lasst uns nicht Kunst erschaffen, sondern Freundschaften“. Jedes Mal, wenn wir in Jakarta an einen neuen Ort gezogen sind, haben wir nicht gleich eine Ausstellung oder ein Event organisiert, son­dern zunächst die Nachbarschaft kennengelernt. Für uns geht es immer als Erstes darum, mit den Menschen abzuhängen, ge­meinsam mit ihnen zu diskutie­ren oder zumindest ihren Namen und ihren Beruf zu erfahren.

Das Wichtigste ist, offen gegen­ über seiner Umwelt zu sein.

RA Ja. Die Menschen in Indone­sien sind allgemein sehr offen für Gespräche und Austausch. Wir fanden es auch spannend zu erfahren, wie die Menschen an den verschiedenen Orten über uns denken. Manche haben uns als Produktionsfirma gesehen. Andere als Eventagentur. Was für uns okay ist. Als bekannt wurde, dass wir für die künstlerische Leitung der documenta fifteen ausgewählt wurden, haben viele, die uns nicht kannten, im Internet nach uns gesucht. Aber wir hatten bis dahin noch nicht einmal eine vernünftige Website.

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Die Künstlerinnen und Künstler der documenta stehen fest, ihre Werke noch nicht. Black Quantum Futurist sorgten zuletzt mit dem Film „Write No History“ (2021), gedreht von Bob Sweeney, für Aufsehen. © Courtesy Black Quantum Futurism

MA Es gibt einen zweiten Facebook-Account mit dem Namen ruangrupa. Der gehört einer Dekorationsfirma. Als unsere Ernennung zur documenta-Leitung bekannt wurde, haben viele Menschen auf Facebook diese Firma beglückwünscht. Wir haben ihnen auch gratuliert.

Als Scherz?

MA Nein, weil wir uns für sie freuen. Das ist ein kleines Unternehmen, und wenn diese soziale Geste auf ihr eigenes Kapital einzahlt, ist das gut für ihr Geschäft. Wir unterstützen sie dabei.

RA Das gehört zu unserem „Ekosistem“. Wir sind Freunde geworden!

Mit dem indonesischen Wort „Ekosistem“ bezeichnen Sie Ihr kollaboratives Netzwerk, richtig?

MA Genau. Die Dekorationsfirma hat das Missverständnis übrigens auch bemerkt und uns zurückgratuliert. Und damit ist alles gut. Wir haben bislang nie darüber nachgedacht, uns den Namen ruangrupa als Copyright schützen zu lassen. Nein, lasst es uns offen halten!

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