Wie der Bodensee über Jahrhunderte zur Inspirationsquelle für Kunst und Literatur wurde, zeigt eine große Ausstellung in Friedrichshafen
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21.02.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 196
Da ist dieses anziehende Blau. An sonnigen Tagen füllt es das gesamte Panorama und lässt die Berge weit hinten am Horizont fast irreal erscheinen. Irgendwo dazwischen schiebt sich eine Landzunge mit einem Schlösschen ins Wasser, vor dem ein Segelboot seinen verträumten Schatten wirft. Schnell geht hier nichts. Wozu auch? Der Bodensee genügt sich selbst, und wer sich auf ihn einlässt, muss der Ruhe etwas abgewinnen können. So wie Hans Purrmann, der 1926 den beschriebenen »Blick auf Schloss Montfort« festhält und mit seiner Frau Mathilde Vollmoeller seit Jahren Malferien in Langenargen verbringt.
Wer die Stille nicht so schätzt, dem fällt die Decke auf den Kopf. Siehe Erika Mann und Gustaf Gründgens. Die beiden Schauspieler fahren im selben Sommer in die Flitterwochen nach Friedrichshafen, doch den frisch Vermählten ist im mondänen Kurgartenhotel schrecklich fad. Erika lässt ihre Geliebte Pamela Wedekind nachkommen, und auch die Brüder Klaus und Golo Mann – der spätere Historiker drückt im nahen Salem die Schulbank – bequemen sich ins „stille Nest“. Als Erika, Pamela und der mit ihr noch verlobte Klaus am Uttwiler Ufer Mopsa Sternheim besuchen, ist die Langeweile verflogen. Es muss in dieser Ménage-à-quatre so wild zugegangen sein, dass die Episode in ein Lustspiel von Mopsas Vater Carl Sternheim einfließt: Unter dem Titel „Die Schule von Uznach“ lebt eine wenig prüde Jugend ihre sexuell überbordenden Fantasien aus.
So sehr sich der See zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz ausdehnt und mit kuriosen Buchten und Inseln überrascht, so unterschiedlich sind auch die Beweggründe der Malerinnen und Schriftsteller, sich ans „Schwäbische Meer“ zu begeben. Im Zeppelin Museum in Friedrichshafen treffen nun beide Seiten in der ungemein anregenden Ausstellung „Beziehungsstatus: Offen. Kunst und Literatur am Bodensee“ mit rund 240 Exponaten aus 200 Jahren aufeinander. Und tatsächlich ist die Liste der See-Liebhaber und Zwangsanrainer, der Urlauberinnen und in die „Provinz“ Flüchtenden nahe der Schweizer Grenze verblüffend lang.
Neben Erich Heckel und dem in Stuttgart ausgebombten Willi Baumeister ist Otto Dix sicher der Bekannteste, der hier vor den Nazis in Deckung geht. Der Maler und Grafiker, der 1933 seine Professur in Dresden verloren hat, findet es „zum Kotzen schön“ und wird doch bis zu seinem Tod 1969 im Hemmenhofen am Untersee „residieren“. In einer Villa konzentriert er sich auf Landschaften und religiöse Themen, teils in gewöhnungsbedürftiger Couleur. Die ätzende Kritik seiner Großstadtszenen verkneift er sich.
Für Annette von Droste-Hülshoff bringt der Bodensee dagegen die Befreiung. Denn erst fern ihrer adligen Familie kann sie ein selbstbestimmtes Leben als Dichterin führen. Bei Schwester Jenny findet sie Unterschlupf auf Burg Meersburg und erwirbt mit dem Honorar für die Novelle „Die Judenbuche“ das sogenannte „Fürstenhäusle“. Bevor sie ihr Wunschdomizil beziehen kann, stirbt sie 1848 krank und resigniert. Dabei hatte die Frau mit dem biedermeierlich-strengen Äußeren auch eine humorvolle bis sarkastische Seite. Das offenbaren neben erfrischenden Briefen filigrane Scherenschnitte, mit denen sich die Droste zum Beispiel über eine Jagdgesellschaft lustig macht.
Es gibt noch mehr dieser Doppelbegabungen. Hermann Hesse, der am Bodensee Erzählungen wie „Unterm Rad“ schreibt, nimmt zum Ausgleich den Aquarellpinsel in die Hand und hat mit Maria Hesse-Bernoulli eine begabte Fotografin an seiner Seite. Das Paar kommt 1904 jungvermählt nach Gaienhofen, doch mit der Geburt der Kinder und der wachsenden Bekanntheit ihres Paschas legt „Mia“ die Kamera beiseite. Auch Hesse wird das Leben am See bald zu eng. So geht es 1912 zurück in die Schweiz. „Die Landschaft des Untersees“ und der kollegiale Austausch werden ihm zeitlebens fehlen.
Denn bei aller Verzweigtheit der Umgebung trifft man ja doch immer wieder aufeinander, inspiriert sich, korrigiert sich – wie etwa der professorale Willi Baumeister seinen Malerfreund Max Ackermann – und schmiedet Pläne. Henry van de Velde kommt gegen Ende des Ersten Weltkriegs ins schweizerische Uttwil, wo er eine Kunstgewerbeschule wie in Weimar aufbauen will. Als sich 1919 dann die ersten Kollegen niederlassen, ist der umtriebige Gestalter schon wieder auf dem Sprung zu neuen Aufgaben in Holland.
Uttwil bleibt dennoch eine Künstlerkolonie, da der seit 1920 dort lebende Dramatiker Carl Sternheim Gleichgesinnte wie den Maler Conrad Felixmüller oder die pazifistische Autorin Annette Kolb anzieht. Und Ernst Ludwig Kirchner ist durch van de Veldes Fürsprache im nahen Sanatorium Bellevue bei Kreuzlingen untergekommen. Dort wirkt der Psychiater Ludwig Binswanger, der Künstlern in seiner Heilanstalt Freiplätze bietet. Vom Tanzstar Vaslav Nijinsky bis zum Bildwissenschaftler Aby Warburg kommt das Who’s who der Kunst- und Intellektuellenszene – und findet Hilfe. Der schwer drogenabhängige Kirchner beginnt, durch Binswanger bestärkt, wieder zu arbeiten.
Die meisten hält es nicht ewig am Bodensee, und wer an seinen Ufern geboren wird, sucht oft genug das Weite. Die in Konstanz aufgewachsene Filmkünstlerin Ulrike Ottinger ging mit zwanzig nach Paris, die Fotografin Herlinde Koelbl von Lindau nach München. Nur einer hält seit über 90 Jahren die Stellung. Martin Walser könnte ohne den Blick aufs Wasser nicht sein. An Intuition hat es ihm sowieso nie gemangelt und auch nicht an Eigensinn, den sein Malerfreund André Ficus 1968 in ein schnöseliges Porträt überträgt. Da genügt einer sich selbst, so wie der See. Anders geht man in diesem Übermaß an Idylle womöglich unter.
„Beziehungsstatus: Offen. Kunst und Literatur am Bodensee“,
Zeppelin Museum Friedrichshafen,
bis 6. November 2022