Donatello war ein Formerfinder, dessen Wirken über Jahrhunderte in Europas Bildhauerkunst nachhallte. Jetzt feiert Florenz seinen großen Renaissanceschöpfer
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08.03.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 196
Auch in seinen letzten Lebensjahren blieb sich Donatello treu. Das hieß bei ihm, dass man ständig mit etwas Neuem rechnen musste, dass er Erwartungen vor den Kopf stieß, Prinzipien, die er einmal entwickelt hatte, auf die Spitze trieb oder sogar konterkarierte, dass er den Ausdruck seiner Statuen und Reliefs bis an den Rand der Hässlichkeit steigerte. Auf eine klassisch-ideale Bearbeitung der Oberflächen legte Donatello in seiner unbändigen Kreativität oft keinen Wert, wofür er noch Jahrhunderte später kritisiert wurde. Manches sieht unvollendet aus, was seine Kunst für moderne Augen umso spannender macht. Die wohl um 1453/55 geschaffene Maria Magdalena aus Holz verstört bis heute die Besucher, wenn sie im Florentiner Dommuseum auf die ausgezehrte, halb verhungerte, vom Leben gezeichnete alte Frau stoßen. So extrem hat in der ganzen Kunstgeschichte kein Bildhauer die ehemalige Sünderin dargestellt, die zur Jüngerin Jesu wurde und nach seinem Tod jahrzehntelang als Büßerin in der Wildnis lebte, nur noch von ihren lang gewachsenen Haaren umhüllt. Bei Donatello ist sie eine Heilige, die in ihrer Verwahrlosung abschreckt, aber zugleich zutiefst berührt mit der Inbrunst und der selbstvergessenen Verinnerlichung ihres Glaubens.
Im Jahr 1457 zog Donatello von Florenz nach Siena, hier wolle er den Rest seines Lebens verbringen, verkündete er. Doch schon zwei Jahre später war er zurück in seiner Heimatstadt, die er künstlerisch so nachhaltig geprägt hat. Die Dombauhütte sorgte für ein Haus, aber offenbar fehlten ihm, der nun über siebzig war, die Aufträge. Ob Cosimo de’ Medici – allmächtiger Strippenzieher und Herrscher ohne Mandat in der Stadtrepublik Florenz – aus diesem Grund seinen Freund mit zwei Bronzekanzeln in der Familienkirche San Lorenzo betraute, ist unklar, ebenso der genaue Beginn. Fest steht, dass Donatello mit Unterstützung von Gehilfen bis zu seinem Tod an der großen Aufgabe arbeitete. Das Datum „1465“, das man erst 1961 im Relief der Laurentiusmarter entdeckte, gibt einen Anhaltspunkt, aber als der Künstler 1466 (wohl achtzigjährig) starb und unter großer Anteilnahme vieler Bürger neben seinem Freund und Mäzen Cosimo in San Lorenzo begraben wurde, standen die Kanzeln noch nicht in der Basilika. Erst 1510 fanden sie eine provisorische Aufstellung.
Die Kunstwissenschaft tut sich mit diesen letzten Werken Donatellos von jeher schwer, denn viele Fragen blieben bislang ungelöst. Warum sind es zwei Kanzeln, was war ihr Zweck und wo genau sollten sie stehen? Wie groß war Donatellos Anteil überhaupt an den elf erhaltenen Bronzereliefs mit Szenen aus der Passionsgeschichte Christi? Es ist unverkennbar, dass verschiedene Hände daran arbeiteten, aber auch dass es Unstimmigkeiten bei der Montierung und Anordnung gibt. Zudem wirkt vieles „unfertig“. Gerade an Letzterem störten sich schon in der Renaissance Künstler und Theoretiker bis hin zu klassizistisch gesinnten Kunsthistorikern des 19. Jahrhunderts.
Vom Nonfinito der Oberflächen, von den fahrig wirkenden Gesichtern und Gesten sollte man sich aber nicht über die Bedeutung der Kanzelreliefs täuschen lassen. In ihrer Komposition, in der Dramatik und der Personenregie sind sie das Radikalste und am weitesten in die Zukunft Weisende, das die italienische Kunst in der Umbruchszeit des 15. Jahrhunderts hervorgebracht hat. Architekturen staffeln sich trotz der Flachheit der Reliefs virtuos in die Tiefe. Donatello verengte die Bildräume, um dann mit dem Getümmel die Rahmungen regelrecht zu sprengen; wie Massenchoreografien wogen die Figuren hin und her. Überall in der Leidensgeschichte Jesu, die sich wie ein figurenreicher Film vor uns abspielt, herrscht höchster Aufruhr oder tiefster Schmerz, ausgedrückt in expressiven Gesichtern und dramatischer Interaktion. Eduard Beaucamp, der langjährige Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat am besten auf den Punkt gebracht, was uns bei diesen Eindrücken berührt: „Das diffuse, zerfurchte und erregte Alterswerk der Reliefs lässt sich mit allen modernen Sinnen und Nerven nachvollziehen. Offenbar musste man erst die Stilbegriffe verabschieden, um dem Bildhauer gerecht zu werden.“ Dieser Künstler, der vor sechseinhalb Jahrhunderten geboren wurde, ist immer noch aktuell.
Wer nach Florenz reist, kommt an Donatello nicht vorbei. In seiner Heimatstadt, die im 15. Jahrhundert als ein Labor für alle Innovationen der beginnenden Neuzeit vibrierte und ausstrahlte, führte der Bildhauer seinen erstaunten Zeitgenossen ein neues Menschenbild vor, zugleich revitalisierte er die lange vergessene Kunst der Antike im selbstbewussten Drang, diese mit seiner Weltsicht und seinem Realismus zu übertreffen. In Marmor, Sandstein, Bronze, Terrakotta oder Holz zeigte er in nie dagewesener Weise die psychologischen Tiefenschichten der Menschen auf und regte die Betrachter an, sich selbst ihren Gefühlen hinzugeben. Ohne Donatello ist Florenz nicht denkbar, aber auch der Künstler nicht ohne seine Stadt – selbst wenn er in ganz Italien von Neapel bis Venedig Spuren hinterließ.
In Florenz beginnt am 19. März das spektakulärste Ereignis alter Kunst in diesem Jahr. Wer hätte es für möglich gehalten, dass Donatello bei allen konservatorischen Herausforderungen seiner Meisterwerke in einer solchen Ausstellung zu erleben sein könnte? Die Schau verteilt sich auf zwei Orte: den Palazzo Strozzi, dem Florentiner Haus für Großprojekte, und das Skulpturenmuseen im Bargello mit seiner größten Dichte an Donatello-Berühmtheiten wie dem „Heiligen Georg“, dem „David“ oder dem rätselhaften „Amor-Atys“. Leihgaben kommen aus den Staatlichen Museen Berlins und dem Victoria and Albert Museum in London, wo die Ausstellung im Anschluss zu sehen sein wird, aber auch aus Washington, Boston, Paris oder italienischen Donatello-Stätten wie Padua, Prato und Siena.
In Berlin und London werden wunderbare, kaum zu wiederholende Ensembles zu bestaunen sein. Aber Florenz ist natürlich nicht zu übertreffen, weil neben den beiden Ausstellungsteilen die authentischen Orte von Donatellos Wirken bequem zu erlaufen sind: der Dom mit dem Museo dell’Opera del Duomo (darin die Marmorkanzel aus der Kathedrale, Statuen von der Fassade und vom Campanile oder die erschreckende Maria Magdalena), San Lorenzo mit den Bronzekanzeln und der Ausschmückung der Alten Sakristei, Santa Croce mit drei Zelebritäten, nicht zu vergessen die Skulpturen in Orsanmichele und die heldenhafte „Judith“ im Palazzo Vecchio. Mehr Donatello als in diesen vier Florentiner Monaten geht nicht.
Er hieß eigentlich Donato di Niccolò di Betto Bardi und wurde in eher bescheidenen Verhältnissen, als Sohn eines Wollkämmerers, in Florenz geboren. Wann genau, ist unklar. Spätere Steuererklärungen, in denen er sein Alter angab, weisen in die Jahre zwischen 1386 und 1390, allgemein hat sich die Forschung auf „um 1386“ geeinigt. Schon früh nannte man ihn Donatello, seit 1411 taucht der Spitzname gelegentlich in Dokumenten auf, nach 1440 war er allgemein gebräuchlich, und wenn der Bildhauer Werke wie die „Judith“ signierte, was nicht oft vorkam, dann fast durchweg als Donatello.