Der Barockbildhauer Johann Georg Pinsel wird in der Westukraine wie ein Nationalkünstler verehrt. Im deutschsprachigen Raum waren seine sensationellen Skulpturen erstmals vor fünf Jahren im Belvedere in Wien zu sehen. Jetzt sind sie wie so viele Kunstwerke vom Krieg bedroht
Von
15.03.2022
/
Erschienen in
WELTKUNST Nr. 124
Wer je in Lemberg war, wird den Aufenthalt so schnell nicht vergessen. Eine herrliche Stadt, mindestens so schön wie Krakau. Als Lwiw (so der ukrainische Name) noch zu Polen-Litauen gehörte – bevor die Habsburgermonarchie es 1772 an sich riss –, entstanden hier römisch wie böhmisch geprägte Barockkirchen mit üppigen Ausstattungen. Schnell fällt dem Besucher ein exaltierter Figurenstil auf: geschnitzte Heilige in dramatischen Körperverdrehungen, Muskelberge wie im Comic, Gesichter von höchster Expressivität. Alles ist noch ein gutes Stück weiter getrieben, als wir es selbst von den besonders ausdrucksstarken Rokokobildhauern wie Balthasar Permoser oder Ignaz Günther kennen.
Vor Ort findet man schnell heraus, dass dieser Lemberger Stil auf einen Künstler zurückgeht, der Ende der 1740er-Jahre aus dem Nichts im Südosten der polnisch-litauischen Adelsrepublik auftauchte. Erst 1906 konnte man den Nachnamen, seit 1992 auch den Vornamen nachweisen: Johann Georg Pinsel. Nichts weiß man über seinen Geburtsort, und auch über seine künstlerische Herkunft lässt sich nur mutmaßen. Im Grunde ist sein Stil einzigartig, am ehesten lässt er sich noch mit Tendenzen der Affektübersteigerung in Böhmen vergleichen. 1761/62 starb er.
In der Westukraine wird Pinsel als eine Art Nationalkünstler verehrt, nachdem der Kunsthistoriker Boris Wosnitzkij zu Sowjetzeiten zahlreiche Stücke aus verfallenen Kirchen gerettet hatte. Die meisten Skulpturen befinden sich heute in der Lemberger Nationalgalerie und im dortigen Pinsel-Museum in einem ehemaligen Kloster. Jetzt unternimmt das Wiener Belevedere die Pioniertat und widmet Pinsel die erste Ausstellung im deutschsprachigen Raum.
Im prachtvollen Winterpalais des Prinz Eugen, seit 2013 Außenstelle des Belvedere, kommen die Skulpturen herrlich zur Geltung. Immer wieder staunt man über die entfesselte Körperdynamik, die komplizierten und rasanten Verrenkungen. Die Gesichter werden zu ausdrucksstarken Seelenlandschaften, gezeichnet vom heroischen Kampf, vom Martyrium oder von frommen Verzückungen. Als seien sie Bodybuilder, lässt Pinsel das nackte Fleisch vieler Figuren schwellen, ihre Sehnen und Knochen drastisch hervortreten. Der Torso des Samson beim Löwenkampf wird zur Muskelorgie, während sich ausgezehrte Heilige demütig krümmen oder, bereits vollkommen entrückt, zum Himmel schweben.
Und dann die Gewänder! Sie führen ein überspanntes Eigenleben. Die Stoffbahnen stauen und bäumen sich auf vor den Körpern, die komplizierten Brechungen sind so kantig oder kristallin, dass man zuweilen schon an kubistische Formen denkt. Alles hier ist große Oper, natürlich im Dienst der göttlichen Botschaft. Das Rokoko als Theatrum sacrum: Dieser faszinierende Künstler vom äußersten Rand Europas öffnet uns weit die Augen dafür, was das eigentlich meint.