Johann Heinrich Vogeler

Schönheit im Scheitern

Der Lebensweg des vielseitigen Künstlers Heinrich Vogeler nahm viele Wendungen, wie nun ein Ausstellungsreigen in Worpswede zu seinem 150. Geburtstag zeigt

Von Tim Ackermann
19.04.2022
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 198

Da sitzt er nun mit dem Cello in der Hand auf der Terrasse. Kaum sieht man ihn. Sein Gesicht wird vom Bruder verdeckt, der die Geige spielt. Im Hintergrund hat der Schwager die Querflöte an die Lippen gesetzt. Die Herren musizieren, das Abendlicht fällt mild, die Rosen blühen, und es könnte alles so schön sein. Doch in die ergriffenen Mienen der Zuhörerschaft hat sich der eine oder andere gesenkte Mundwinkel gemischt. Schatten sind ins Idyll geglitten. Und der Maler, der mit diesem Gemälde „Sommerabend“ zweifellos einen Schaffenshöhepunkt erreicht hat und in Oldenburg dafür bald die Große Medaille erhalten wird: Er versteckt sich auf dem Bild. Am Cello, hinter dem Bruderkopf. Das scheint schwer erklärlich. Und es verrät, dass man trotz aller kunsthistorischen Forschung diesen Menschen wohl nie ganz enträtseln wird, der in seiner Biografie so viele verschiedene Facetten vereinte – Träumer und Ärmelhochkrempler, Schöngeist und Kommunist.

Vor 150 Jahren, am 12. Dezember 1872, wurde der Maler Heinrich Vogeler als Sohn eines Eisenwarengroßhändlers in Bremen geboren. Nach seinem Studium in Düsseldorf war seine Karriere ab 1894 aufs Engste mit dem Dorf Worpswede verbunden, das nördlich von Bremen am Rande des Teufelsmoors liegt und sich damals in eine veritable Künstlerkolonie verwandelte. So sind es nun auch die Worpsweder Museen, die zum Jubiläum die Persönlichkeit Vogelers beleuchten, indem sie an insgesamt vier Standorten die gesamte Bandbreite seines Schaffens ausstellen. Und das ist wahrlich enorm.

Als der Maler im Mai 1894 zum ersten Mal Worpswede besuchte, wurde er von den bereits dorthin übergesiedelten Kollegen Fritz Mackensen, Otto Modersohn, Hans am Ende und Fritz Overbeck freundlich aufgenommen. Später stieß noch Paula Becker hinzu, die heute von allen am bekanntesten ist. Gemeinsam streifte man auf Motivsuche durch die Umgebung. Vogeler verliebte sich in Martha Schröder, ein Mädchen aus dem Dorf. Er kaufte eine altes Bauernhaus und begann es nach seinen Vorstellungen umzubauen. Die Euphorie dieser Anfangsjahre kann man vielleicht am besten im Ausstellungsteil der Worpsweder Kunsthalle erspüren, der sich vor allem auf frühe Radierungen Vogelers konzentriert, die seinen Ruf als wichtiger Künstler des Jugendstils begründen: Ein Storch lässt sich mit ausgebreiteten Flügeln auf einem Weiher nieder. Frühlingsblumen sprießen am Fuße eines Baumes. Solche Blätter sind im Mappenwerk „An den Frühling“ von 1899 versammelt, das im neuen Insel-Verlag herausgegeben wurde und große Aufmerksamkeit erfuhr. Sichtbar ist aber auch, dass Vogeler die Natur häufig als eine Art Bühne für märchenhafte Szenen begreift: In der an den englischen Präraffaeliten orientierten Radierung „Liebe“ von 1896 wendet uns ein junges Paar den Rücken zu und blickt am lichten norddeutschen Birkenhain vorbei auf ein Schloss im Hintergrund, während daneben eine zweite junge Frau sanft ihre Finger über die Saiten einer Harfe gleiten lässt. Die Fantasie blüht in den Moorwiesen.

Dass Vogeler nicht nur Luftschlösser, sondern auch ein reales Traumhaus errichtete, zeigt die Ausstellung in seinem ehemaligen Domizil. Das erworbene Bauerngehöft am Fuße des kleinen Weyerbergs gestaltete er dem Zeitgeist gemäß als bewohnbares Gesamtkunstwerk. Für die Handwerker zeichnete er einen biedermeierlichen Giebel in Originalgröße im Sand vor. Möbel und Geschirr entstanden nach eigenen Entwürfen. Er ließ eine Freitreppe anlegen, pflanzte Blumenbeete und eine Reihe von Birken, die dem Ort den Namen geben: Barkenhoff. Er schuf sich sein Idyll, in dessen Zentrum er Martha Schröder platzierte, die er immer wieder malte. In „Frühlingsabend“ (1901) steht sie im grünen Kleid neben der Freitreppe des Barkenhoffs. Ihr blondes Haar harmoniert mit dem warmen Gelbton der Wände im Obergeschoss, wo das Bild hängt. Im selben Jahr heirateten die beiden. Bis 1905 erblickten drei Töchter das Licht der Welt.

Das weiße Haus vor dem grünen Wald bezaubert. Und man kann sich die einstigen Soireen auf dem Barkenhoff sehr gut vorstellen: Künstlerfreunde tummelten sich dort, der Dichter Rainer Maria Rilke trug seine Verse vor. Doch das Glück währte nur kurze Zeit. Die Worpsweder Malergemeinschaft zerbrach schnell. Auch in der Beziehung zu Martha tat sich eine Kluft auf. Ab 1909 lebte ihr Geliebter Ludwig Bäumer mit im Haus. Obwohl Vogeler in dieser Zeit viele Aufträge hatte, etwa den Worpsweder Bahnhof entwarf, spürte er vielleicht doch, dass er künstlerisch den Anschluss verpasste. Paula Modersohn-Becker, die er schätzte und im „Sommerabend“ am linken Rand porträtierte, hatte aus Paris eine neue Bildsprache mitgebracht. Um 1903/1904 begann mit ihr die Moderne in Deutschland. Vogelers Kunst hingegen zeigt ihn auf der Suche: Sein Selbstporträt von 1914 ist in Pinselstrich und Farbgebung deutlich expressiver – freilich ohne die Radikalität Kirchners oder Kandinskys zu erreichen. Dass sich der Maler mit 42 Jahren freiwillig zum Dienst im Ersten Weltkrieg meldete, wirkt wie eine Flucht von seiner „Insel der Schönheit“, die ihm zum goldenen Käfig geworden war.

Der Krieg sorgte für einen Bruch: Im Januar 1918 veröffentlichte der desillusionierte Vogeler „Das Märchen vom lieben Gott“, einen pazifistischen Protestbrief an den Kaiser. Aufgrund seiner Bekanntheit entging er einer Hinrichtung wegen Hochverrats. Im Bild „Kriegsfurie“ (1919) tanzt eine Frau im blutroten Umhang auf einem Berg gequälter Leiber. Der Maler engagierte sich zunehmend politisch: Auf dem Barkenhoff gründete er 1919 eine Landkommune und Arbeitsschule. Wieder ein utopisches Projekt, das abermals scheiterte. Diesmal am wirtschaftlichen Misserfolg. Ab 1923 reiste er mehrfach in die Sowjetunion. Ihn begleitete Sonja Marchlewska, seine neue Geliebte und spätere zweite Frau. Das alte Traumhaus ging an die Rote Hilfe. Seine „Komplexbilder“, die in diesen Jahren entstehen, wie „Die Geburt des Neuen Menschen“, sind im Barkenhoff-Ausstellungsteil wohl seine spannendsten Werke: Angelehnt an den Kubismus ist in ihnen die Welt in kleine Einzelszenen zersplittert – die aber durch den gekonnten Einsatz leuchtender Farben zusammengehalten werden.

1931 ließ sich Vogeler dauerhaft in Moskau nieder. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs fällt er jedoch in Ungnade beim stalinistischen Regime. So starb er 1942 verbannt und verarmt in Kasachstan. Sein Nachwirken beschäftigt aktuell die beiden anderen Ausstellungsorte in Worpswede: Die Große Kunstschau zeigt neben dem berühmten „Sommerabend“ gerade Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart, deren Werke die heutige Zeitenwende kommentieren, so wie Vogelers politische Arbeiten das einst taten. Und das Haus im Schluh, in das Martha Vogeler 1920 mit den Töchtern und dem Hausrat des Barkenhoffs umzog, präsentiert seine kunsthandwerklichen Schätze. In der angeschlossenen Tischlerei entstehen übrigens bis heute Vogeler-Möbel nach Originalentwürfen. Und von den feinen Weißweinkelchen aus gelblichem Uranglas, die der Künstler um 1900 in Böhmen anfertigen ließ, erzählt die Urenkelin, dass sie von ihrer Familie an Weihnachten benutzt wurden. Die „Insel der Schönheit“ ist also über all die Zeit nie zur Gänze versunken. 

Service

AUSSTELLUNG

„Heinrich Vogeler. Der Neue Mensch“,

Worpsweder Museen,

bis 6. November 2022

vogeler22.de

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