Tino Sehgal in Leipzig

„Es gibt immer wieder Menschen, die weinen“

Die Werke Tino Sehgals gibt es nur im Moment der Begegnung zwischen Darstellenden und Publikum. Nun berühren seine konstruierten Situationen in einer Ausstellung in Leipzig

Von Sarah Alberti
11.04.2022

Zwei junge Frauen liegen auf dem Boden im Museum der bildenden Künste in Leipzig. Zärtlich berühren sie sich, versinken in der Umarmung, bewegen ihre Münder in Zeitlupe aufeinander zu. Die Choreografie, die Tino Sehgal für diese lebendige Skulptur entwickelt hat, ist inspiriert von Kuss-Darstellungen der Kunstgeschichte. Kleine Skulpturen aus dem Leipziger Museumsdepot rahmen die Situation. Viele Besuchende bleiben kurz stehen und zücken das Smartphone, um diesen Moment zu dokumentieren. Andere schauen lange zu. Wann habe ich zuletzt jemanden derart zärtlich berührt? Wann zum ersten Mal? Und: Wurde ich schon einmal dabei beobachtet?

 „KISS“ aus dem Jahr 2002 ist die älteste von insgesamt sechs „konstruierten Situationen“, die derzeit im Leipziger Museum zu erleben sind. Nicht Objekte, sondern Menschen und Gedanken stehen im Zentrum. Interaktionen werden ausgestellt, als Bewegungen, als Spiel, als Tanz, aber auch als Diskussion und Gespräch. Sehgal, der 2005 den Deutschen Pavillon in Venedig bespielte und 2012 auf der Documenta 13 in Kassel vertreten war, studierte Volkwirtschaft und Tanz. Am deutlichsten verbinden sich diese Interessen in „THIS SITUATION“: Auf den ersten Blick scheinen Besuchende rückwärts im Kreis zu laufen und miteinander zu diskutieren. Jeans, Pullover, Blusen – ihre Kleidung ist nicht besonders auffällig. Was kann an Stelle des technischen Fortschritts treten? Sozialer oder kultureller Fortschritt? Menschen mit „denkenden Berufen“ haben sich gemeldet, um diese Situation im Museum aufzuführen, darunter an manchen Tagen auch Museumsdirektor Stefan Weppelmann. Sie zitieren Max Weber, Hannah Arendt und Michel Foucault. Was geskripteter Text und was eigene Gedanken sind, bleibt offen. Anderen beim Denken zuschauen – ein Luxus. Mitdiskutieren, mit im Kreis gehen – möglich ist für die Besuchenden alles.

MdbK Leipzig Tino Sehgal
Das Museum der bildenden Künste in Leipzig. Tino Sehgal verzichtet auf die Dokumentation seiner Werke – es gibt keine offiziellen Fotos oder Filmaufnahmen. Auch auf den Einladungskarten und auf der Website des Museums werden nur weiße Flächen gezeigt. © PUNCTUM/Alexander Schmidt

„Wunsch und Kern der Anfrage von Museumsdirektor Stefan Weppelmann war, Kunstwerke zu zeigen, die eine Bindung zur Stadt schaffen“, erklärt Tino Sehgal einen Tag vor Eröffnung während der letzten Probe. Seit über einem Jahr haben er und sein Team die Ausstellung vorbereitet, die für Weppelmann auch eine Antwort auf die Frage nach der Relevanz von Museen ist. Er versteht Museen als Orte, an denen Menschen sich verbunden fühlen sollen, zu ihrer Stadt, der Kunst, mit anderen Besuchenden. Eine Haltung, die seit Amtsantritt im Januar 2021 an vielen Stellen im Haus deutlich wird: Max Klingers massive Beethoven-Skulptur von 1902 platzierte er etwa kostenfrei zugänglich in der Eingangshalle des Museums. Morgens erklingt dessen Musik nun zeitgenössisch interpretiert von zwei Darstellerinnen, deren Stimmen das gesamte Gebäude durchdringen. Sitzend auf den von Tino Sehgal geometrisch arrangierten Ledersofas wandert der Blick hinauf bis zur Decke des aus dieser Perspektive sakral wirkenden Baus. Geht man für Sonderausstellungen sonst meist schnell in das Untergeschoss, bringen Sehgals Situationen nun das ganze Museum zum Klingen.  

Bereits kurz nach der Eröffnung des Neubaus im Jahr 2004 war Tino Sehgal beeindruckt von der spektakulären und luftigen Architektur. Glas, Sichtbeton, Muschelkalk und Eichenholz dominieren den Innenraum. Großflächige Terrassen wirken wie architektonische Pausen, verbinden – auch akustisch – die einzelnen Ebenen und werden von den Situationen gefüllt. Die Architektur war eine wichtige Komponente für die Planung der Ausstellung, nicht zuletzt für die Frage, welche Situation überhaupt gezeigt werden können: „Ich habe nicht so viele Arbeiten, wo nicht gesprochen oder nicht gesungen wird, aber die brauchte es hier.“ Denn auch alle Geräusche des Hauses, jedes schreiende Baby und jede Schulklasse sind mehr als deutlich zu hören. Auf einer der Terrassen toben Kinder, sind eingeladen, sich Spiele auszudenken – es ist zugleich die lauteste wie die unauffälligste von Sehgal initiierte Situation. An „THIS SUCCESS/THIS FAILURE“ sind über die Ausstellungsdauer von vier Monaten 100 Schulklassen aus Leipzig beteiligt.

Tino Sehgal Leipzig
Tino Sehgal vor dem Museum in Leipzig. © PUNCTUM/Alexander Schmidt

„Mein Ausgangspunkt war immer die Frage, wie ein Kunstwerk produziert wird“, erklärt Sehgal „Ich habe mich dabei vor allem für den Materialverbrauch interessiert.“ Die nach ihm benannte Ausstellung kommt ohne Leihgaben aus, er nutzt ausschließlich Materialien, die im Haus schon vorhanden sind, es gibt keine gedruckte Pressemappe und keine Plakate in der Stadt. Aber es braucht Interpret:innen: Professionellen Tänzerinnen und Freiwillige machen die Ausstellung möglich. Wer das Museum besucht, wird bis Ende Juli immer mindestens eine Situation erleben können. Auch in den nächsten Tagen wird Tino Sehgal noch vor Ort sein, um ein Gefühl für die Reaktionen zu bekommen: „Es gibt immer wieder Menschen, die weinen. Ich habe mir am Anfang nicht vorstellen können, das ich etwas herstellen kann, das andere so berührt.“ Eine der extremsten Reaktionen gab es während der documenta 13 in Kassel: In einem abgedunkelten Raum wurden Eintretende umtanzt und in das Geschehen einbezogen. Ein Mann kam über drei Wochen jeden Tag und stand an immer der gleichen Stelle.

Tino Sehgal versucht, so wenig wie möglich über seine eigenen Arbeiten zu sprechen. Eine Zeitlang hat er gar keine Interviews gegeben. Für ihn steht der Dialog zwischen dem Werk und den Besuchenden im Vordergrund: „Für mich ist ein Kunstwerk wie ein Prisma, durch das jeder sein eigenes Licht schickt, das sich dann individuell bricht.“ Konsequent verzichtet er auf die Dokumentation seiner Werke – es gibt keine offiziellen Fotos oder Filmaufnahmen. Sehgal will jedoch nicht, wie oft verkürzt beschrieben, der Künstler sein, der keine Abbildungen seiner Werke autorisiert: „Diese Aussage ist paradox, denn ich wäre kein Künstler, wenn mein Werk daraus bestünde, keine Bilder meiner Werke zu machen. An erster Stelle kommt das Werk selbst.“ Eine Entscheidung, die allen, die die von ihm geschaffenen Situationen live erleben, eine individuelle Erfahrung schenkt.  

Service

AUSSTELLUNG

„Tino Sehgal“,

Museum der bildenden Künste (MdbK), Leipzig,

bis 24. Juli 2022

mdbk.de

 

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