Biennale in Venedig

„Symbol für den Verlust von Menschlichkeit“

Der Künstler Pavlo Makov bespielt den ukrainischen Pavillon der Biennale in Venedig. Wir sprachen mit ihm und der Kuratorin Maria Lanko über seine Flucht aus Charkiw, die Rettung eines Kunstwerks und die Erschöpfung der Demokratie

Von Simone Sondermann
15.04.2022

Lassen Sie uns zuerst über Kunst reden: Was ist die künstlerische Idee hinter dem Werk „The Fountain of Exhaustion“, mit dem Sie den ukrainischen Pavillon auf der diesjährigen Biennale bespielen?

Pavlo Makov Die Idee zu diesem Werk stammt aus dem Jahr 1994, in dieser Zeit habe ich es entwickelt. Die Idee hing mit der damaligen Situation in Charkiw und in der Ukraine der Post-Sowjet-Zeit zusammen. In den vergangenen zehn Jahren – eigentlich schon seit 2008 – habe ich gemerkt, dass „Der Brunnen der Erschöpfung“ mehr und mehr mit der Situation der Welt insgesamt zu tun hat. Es war keine lokale Metapher mehr, sondern wurde eine Metapher für den Zustand der Welt. Für den Verlust von Menschlichkeit, dafür, wie wir die Verbindung zueinander verlieren, auch wie Staaten die Verbindung zueinander verlieren. Er war für mich außerdem ein Symbol für die Erschöpfung der Demokratie in unserem Teil der Welt. Das Einzige, was sich seit Beginn des Krieges bezüglich dieses Werks verändert hat: Vor dem Krieg war der Brunnen ein Alarmsignal für die Dinge, die geschehen können. Jetzt ist er ein Statement.

Künstler Pavlo Makov im Jahr 1996 neben dem „Brunnen der Erschöpfung“ in Charkiw
Der Künstler Pavlo Makov im Jahr 1996 neben dem „Brunnen der Erschöpfung“ in Charkiw. © Pavlo Makov. Courtesy of the artist

Frau Lanko, Sie sind Inhaberin der Galerie The Naked Room in Kiew. Was ist die Geschichte dieser Galerie?

Maria Lanko Ich habe die Galerie 2018 mit zwei Partnern gegründet, Lizaveta German und Marc Wilkins, der heute nicht mehr dabei ist. Lizaveta German ist Co-Kuratorin des Biennale-Pavillons. Die Räumlichkeiten sind klein, bescheiden, wenn Sie so wollen, und wir haben die Galerie The Naked Room wegen der nackten Wände genannt, die wir nie verputzt oder gestrichen haben. Wir wollten von Beginn an ukrainische Künstlerinnen und Künstler repräsentieren, die noch nicht so etabliert sind, und sie international bekannt machen. Daneben arbeiten wir aber auch mit renommierten Namen wie etwa eben Pavlo Makov oder Victor Marushchenko, der vor zwei Jahren verstorben ist. Für uns ist nicht nur die Gegenwart wichtig, sondern auch Positionen der jüngeren Vergangenheit, Künstler der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre, die wir neu betrachten. Das trifft auch auf Pavlos Brunnen zu. Es ist ein altes Werk und eines, das nie voll funktionstüchtig war. Es war eine Skulptur, ein Symbol, aber kein funktionierender Brunnen. Die jüngere ukrainische Kunstgeschichte ist nicht nur eine Geschichte von dem, was es gab, sondern auch von dem, was es nicht gab, aufgrund der Umstände. Es gibt so viele unrealisierte Projekte, die es nur in Gedanken oder auf dem Papier gab. Für uns war wichtig, einige von ihnen zu realisieren, als wir die Möglichkeiten, die Infrastruktur dazu hatten.

Hat Ihre Galerie in Kiew die Bombardierung der Stadt überstanden?

Maria Lanko Ja, sie ist intakt. Wir haben die Kunstwerke aus der Galerie evakuieren können, sie sind jetzt in Lwiw. Zwei aus unserem Team hatten Kiew mit ihren Familien verlassen, aber sie sind jetzt zurück und kümmern sich um die Galerie. Ich bekommen jeden Tag Nachrichten und Fotos von ihnen.

Ihre Kollegin Lizaveta German war hochschwanger, als der Krieg ausbrach.

Maria Lanko Ja, sie konnte Kiew verlassen und hat mittlerweile ihr Baby bekommen, in Lwiw. Sie ist jetzt über Wien auf dem Weg hierher nach Venedig, zusammen mit ihrem Mann, der wegen einer Verletzung gehandicapt ist.

Installation im ukrainischen Pavillon der Venedig-Biennale 2022
Ein Rendering der Installation im ukrainischen Pavillon der Venedig-Biennale 2022. © ФОРМА2

Haben Sie seit Kriegsbeginn mal daran gedacht, die Beteiligung an der Biennale abzusagen?

Pavlo Makov Nein. Wir wussten nur nicht, ob wir in der Lage sein würden, unser Projekt zu realisieren. Maria war in Kiew, ich war in Charkiw. Nachdem das Stadtzentrum von Charkiw zerstört worden war, bin ich mit meiner Frau, meiner Mutter und zwei engen Freundinnen in mein Auto gestiegen, und wir haben die Stadt während eines Raketenangriffs verlassen. Eine Rakete war nur 500 Meter vom Haus meiner Mutter entfernt eingeschlagen. Ich konnte keine Kunst mitnehmen, im Auto war nur Platz für die fünf Personen und einige Rucksäcke. Maria konnte das Herzstück des Werks aus Kiew mitnehmen, und wir hatten schnell das Ziel, es hier in Venedig wieder aufzubauen.

Das heißt, Sie, Frau Lanko, haben nur Teile des Werks evakuieren können?

Maria Lanko Ich zeige es Ihnen, das ist ist das künstlerische Basiselement des Werks. (Hält einen Metalltrichter hoch.) Wir haben 78 bronzene Trichter im Brunnen. Eigentlich sollten diese Trichter direkt an die Wand angebracht werden. Aber in Arsenale, wo wir unseren Pavillon haben, darf man nichts an den Wände anbringen, man darf nicht bohren. Also haben wir eine selbstragende Konstruktion geplant, mit einer Wasserpumpe und einem Bassin. Wir haben sie in Kiew bauen lassen. Sie war sehr schwer. Und klar, als nach Ausbruch des Krieges Kiew unter Beschuss lag, konnten wir das nicht transportieren. Das Einzige, was ich machen konnte, war, mein eigenes Auto zu nehmen, die Trichter in drei Boxen einzupacken und sie über die rumänische Grenze aus dem Land zu schaffen. Wir haben jetzt hier in Italien, in Mailand, eine Firma gefunden, die den Brunnen rekonstruieren konnte, er wird nun nach Venedig gebracht.

Box mit den geretteten Trichtern von Pavlo Makovs Brunnen, die Maria Lanko aus Kiew evakuierte
Eine Box mit den geretteten Trichtern von Pavlo Makovs Brunnen, die Maria Lanko aus Kiew evakuierte. © Maria Lanko

Herr Malkov, Sie haben schon erwähnt, dass sie aus Charkiw kommen. Wie war die Situation dort, als Sie fliehen mussten?

Pavlo Makov Am Anfang des Krieges dachte ich noch, ich will nicht gehen. Dass wir einfach im Haus bleiben. Wir hätten nie gedacht, dass die Russen anfangen würden, die Wohnviertel zu zerstören. Nach ein, zwei Tagen mussten wir schon einen Luftschutzraum aufsuchen. Meine Mutter ist 92 Jahre alt, sie ist eine starke Persönlichkeit. Sie hat gesagt: Ich gehe in keinen Bunker. Ich habe den Zweiten Weltkrieg überlebt, ich gehe nicht wieder in einen Luftschutzkeller. Sie blieb also in ihrem Zuhause im Stadtzentrum. Meine Frau und ich lebten in einem Luftschutzraum, mein Sohn im Keller eines Restaurants, in dem er gearbeitet hat. Nach acht Tagen wurde mir klar, dass ich meine Mutter da rausholen musste, sie hatte schon kaum mehr zu essen. Also haben wir entschieden, die Stadt in Richtung Westukraine zu verlassen.

Wie sind Ihre Pläne für die Zeit nach der Biennale?

Pavlo Makov Ehrlich gesagt kann ich nicht weiter als bis zur Eröffnung am 23. April denken. Jetzt nach Charkiw zurückzukehren wäre verfrüht. Ich kann dort nicht arbeiten und für unsere Armee ist es besser, wenn die Zivilisten die Stadt verlassen. Wenn das ein Schlachtfeld wird, ist es einfacher für sie, die Stadt zu schützen, wenn die Zivilisten nicht da sind, weil diese am meisten leiden. Wir haben ja gesehen, was in Mariupol geschehen ist.

Was erwarten Sie von der Venedig-Biennale? Das muss ein seltsamer Clash für Sie sein, der Krieg zu Hause und die glamouröse Kunstwelt hier in Venedig.

Maria Lanko Vorher hatten wir natürlich Erwartungen. Wir waren gespannt, wie die Menschen auf das Werk reagieren, wir glauben, es ist ein sehr starkes Werk. Aber klar, die Unterstützung, die Aufmerksamkeit, die wir jetzt bekommen, hat mit der Situation in unserem Land zu tun. Es gibt nichts Mächtigeres als den Krieg. Jetzt ist es unsere Aufgabe, hier zu sein und die ukrainische Kultur zu repräsentieren.

Pavlo Makov Wir können das Herz und Hirn der Menschen erreichen, aber zugleich ist das – leider – auch bedingt durch den Krieg, durch die Opfer, durch diese unvorhersehbare und grausame Situation, die uns alle betrifft. Es ist ein großer Krieg und wir wissen nicht, wie er ausgeht.

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