Annette Messager in Lille

Brüste zu Schneckenhäusern!

In einer furiosen Ausstellung in Lille erweist sich die französische Künstlerin Annette Messager als kämpferische Feministin, die ihrer Todesangst mit schwarzem Humor begegnet

Von Olga Grimm-Weissert
20.05.2022

„Ich bin ein Bote ohne Message“, bemerkt die französische Künstlerin Annette Messager mit wortspielerischer Ironie. „Messager“ ist der Bote, der Überbringer einer Nachricht. Ist diese schlecht, geht es ihm in der griechischen Antike an den Kragen.

Seit die 78-jährige Madame Messager nach einer schlechten medizinischen Nachricht unters Messer musste, kompensiert sie ihre Todesangst mit überbordender künstlerischer Tätigkeit. Voll Fantasie, feinem oder schwarzem bis bissigem Humor, mit deutlichen Anspielungen an die Sexualtätigkeit von Mensch und Tier. Dabei privilegiert sie die Zeichnung, oft mit flüssiger Acrylfarbe. Sie transponiert traumatisierte weibliche Organe: die Brust wird zum Schneckenhaus, oder zum Kopf einer Krake. Der Uterus mündet in den Mittelfinger, dessen Geste „du kannst mich mal“ auf französisch bedeutet.

Es ist eine extrem berührende Phase im Schaffen dieser herausragenden Botin in Sachen (nicht nur) weiblicher Kunst, mit der sie hinterlistig Sozialstrukturen hinterfragt. Derzeit bewundert man ihre neuen Arbeiten, sowie eine signifikante Auswahl des Schaffens der letzten Jahre, im LaM, dem bei Lille gelegenen Museum für moderne und zeitgenössische Kunst. In enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin entstand ein gekonnt gestalteter, abwechslungsreicher Parcours. Dieser bietet auch eine Installation, für die die Französin 2005 bei der Biennale in Venedig den Goldenen Löwen erhielt: „Drüber – Drunter“, wo rote Seide durch ein Luftgebläse und Licht zeitweilig darunter versteckte Bilder durchschimmern lässt.

Jetzt variiert Messager die Idee, indem sie zwei aufblasbare Schläuche mit Armen aussen über dem Museumsbau tanzen und sich umschlingen lässt – wie ein rot-schwarzes  „Liebespaar“, angetrieben vom Wind des Schicksals.

Den Titel der Schau „Als ob“ illustriert die Künstlerin an einer Museumswand, indem sie die Worte aus schwarzen Netzen formt. Die Ästhetik ist vielfältig, von surreal bis grotesk, gelegentlich makaber, wie die große Installation „Daily“: Alltagsgegenstände wie Schere, Schlüssel, Hammer, Müllsack oder Kleiderhaken aus schwarzem Plastikmaterial hängen von der Decke herab, vermischt mit männlichen rosa Genitalien oder Ratten in schwarzen Netzen. „Das Fantasiereich geriert aus dem Alltag“, kommentiert Messager sachlich-trocken.

Keineswegs trocken ist der enge Saal mit dem Titel „Der schwarze Kontinent“, womit selbstverständlich Sigmund Freuds Charakterisierung des weiblichen Sexuallebens gemeint ist. Auf dem extra konzipierten Wallpaper zeichnete die provokante Dame eine Unzahl von farbigen Uterus- und Eierstock-Darstellungen. Diese erleuchtet eine hin und her schwenkende Glühbirne, die man in Frankreichs Theatern als „Dienerin“ (la Servante) bezeichnet und abergläubisch niemals ausknipst. Hier befinden sich auch die von Annette Messager gesammelten volkstümlichen Stickereien auf weißem Stoff. Normalerweise mit Sprichwörtern bestickt, sieht man in diesem Kuriosa-Kabinett kleine Rahmen mit Bezeichnungen wie: „Macho“, „Idiot“ oder „Feigling“. Schwarze Schnecken-Skulpturen, auf deren Rücken Messager eine dralle Brust platziert, bevölkern den engen schwarzen Kontinent.

Eine Art Vanitas-Installation formieren 77 neue Zeichnungen mit dem Titel „Kopf an Kopf“. Ein künstlerisches Beschwören der Todesangst anhand von Totenköpfen. Ähnlich besessen wirkt die Zeichnungsserie „Requiem für Jeanne“, wo die Figur der Jeanne d’Arc zur feministischen Kämpferin wird, die den Tod mit Mut und irrer Glaubenskraft herausfordert und damit ihren Horror reduziert.

Vielleicht auch ein Requiem für Messagers im letzten Sommer verstorbenen Mann Christian Boltanski. Die beiden Künstler führten ihre Karriere parallel. Abgesehen vom schwarzen Humor und der gleichen Galerie (Marian Goodman) gab es kaum Überschneidungen. Es war eine Beziehung vollkommen auf Augenhöhe, die bedeutende Frau mit weltweiten Ausstellungen ebenso so erfolgreich wie ihr Lebenspartner. Zudem erhielten beide den hochdotierten japanischen „Praemium Imperiale“, quasi der Nobel-Preis für Kunst und Kultur – er im Jahr 2006 und sie exakt eine Dekade später, im Jahr 2016.

Service

Ausstellung

„Comme si“,

Lille Métropole Musée d’art moderne, contemporain et d’art brut,

Villeneuve d’Ascq,

bis 21. August

musee-lam.fr

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