Die im Vorfeld viel diskutierte Documenta 15 beginnt. Allen Weltproblemen zum Trotz verbreiten die Kunstkollektive eine einladende und menschenfreundliche Stimmung. Erste Eindrücke aus Kassel
Von
16.06.2022
Es gibt viele passende Orte, um den Rundgang durch die Documenta zu beginnen. Sie ist ja sehr städtisch, hat sich Viertel und Stellen erschlossen, die selbst eingefleischter Kasselaner oft übersehen. Das Urbane mit seinen Abgründen und Chancen, mit der Möglichkeit, sich immer wieder neu zu verbinden, ist eines der großen Themen der Ausstellung.
Aber neben der Stadt und den sozialen Interaktionen ist die Natur – wenn der Eindruck des ersten Tages nicht täuscht – ein weiteres Hauptthema der Documenta. Das ist in Zeiten des bedrohten Globus und der Nachhaltigkeit als allseits propagiertes Mantra natürlich erwartbar. Aber das indonesische Kollektiv Ruangrupa, das die Großausstellung leitet, hat wie bei allem auch hierbei einen eigenen, charakteristischen, wenn auch nicht immer ganz klar festzumachenden Weg gefunden.
Jedenfalls ist es ein sehr schöner Start durch die 32 in der Stadt verteilten Stationen, sich zuerst in die Karlsaue aufzumachen, die Weite des Landschaftsparks und die herrliche Ruhe in sich einfließen zu lassen, zunächst ein bisschen durchs Gebüsch zu irren, um schließlich beim großen Komposthaufen den Beitrag der argentinischen Gruppe La Intermundial Holobiente aufzusuchen. Die Künstler, Wissenschaftlerinnen und Schriftsteller tauschen sich intensiv darüber aus, wie auf der Erde alles zusammenhängt und welche Zwischenstufen und Möglichkeiten für unsere Zukunft daraus entstehen. Mitten in der fruchtbaren Kasseler Erde, die hier heranreift, haben sie in einem Bauwagen ihr Denkquartier aufgeschlagen. Hier stellen sie ihr „Book of the Ten Thousand Things“ vor und laden ein, im Sinne von Ruangrupas „Lumbung“ das kollektive Arbeiten und Diskutieren auszubauen. Darüber spannt sich ein höchst romantisch Waldbild auf einer großen Stoffbahn durch die Bäume. Aura der Natur und zeitgemäße Reflexion kommen zusammen.
So ungefähr geht es in der Karlsaue weiter. Im Gewächshaus haben Künstler:innen und Aktivist:innen der kolumbianischen Stiftung Más Arte Más Acción von Käfern befallenes, aber noch brauchbares Schadholz gestapelt und beschallen es mit Naturgeräuschen und gelesenen Texten. Vor der Orangerie treffen wir wieder auf sie. Rund um einen Baum ist mit Baumscheiben des Restholzes eine Versammlungsstätte angelegt, während man in einem Zelt Filme über die ökologisch-künstlerische Arbeit der Stiftung sehen kann, etwa eine Tanzaktion am Meer und im Regenwald. Ein surreales Traktormobil von Atelier van Lieshout dient als Lumbung-Ort von Más Arte Más Acción, um mit den Besuchern der Documenta in Kontakt zu treten.
The Nest Collective aus Nairobi prangert auf der Karlswiese vor der Orangerie einen katastrophalen Missstand an: In einer Mülllandschaft aus Alttextilien und Computerplastik erklären sie, unterstützt durch Videointerviews, wie in Ostafrika die einheimische Wirtschaft vom Recycling-Müll der Industrieländer kaputt gemacht wird. Als nächste Station zeigen Cao Minghao und Chen Jianjun aus dem chinesischen Chengdu in einem biologisch abbaubaren Hirtenzelt, wie Landbewohner und Wissenschaftler sich der Bedrohung der Natur und damit den traditionellen Lebens- und Erwerbsformen annähern.
Sehr schnell lässt man sich von der menschenfreundlichen Atmosphäre des Lumbung einnehmen – der kollektiv betriebenen indonesischen Reisscheune als Metapher für Ruangrupas Methode. Schon die Pressekonferenz, in Kassel bislang immer ein quälend langes Diskursgewitter, war diesmal ein lustiges, kurzweiliges Spektakel. Es fand im Kasseler Fussballstadion statt, war von Musikvideos und einer lustigen Spielzeug-TV-Performance des indonesischen Künstlers Agus Nur Amal Pmtoh aufgelockert und nahm einen schon ein durch die allseits herrschende gute Laune der vielen „Lumbung Members“ und „Lumbung Artists“, die Ruangrupa (mit zehn „Kernmitgliedern“ vor Ort) immer wieder bejubelten.
In glasklaren Worten erklärte Sabine Schormann die Vorgehensweise von Ruangrupa und das Schnellballsystem des ständigen Austausch. So wuchs die Schar der in aller Welt an der Documenta teilnehmenden oder mit ihr kollaborierenden Künstler:innen auf mindestens 1500 an. Nicht alle sind in Kassel mit einem Werk präsent, aber bei Ruangrupa und Lumbung hängen eben alle mit allen zusammen. Und wenn man am Abend des ersten Tages noch zum Bootsverleih Ahoi ging, wo neben den Installationen von Chang En-Man und der Off-Biennale Budapest ein ganzes Areal des Austauschs, der Rekreation und der Biergartenatmosphäre entstand, erhielt man eine Ahnung, was diese Documenta – völlig abseits vom Kunstmarkt und vom Starkuratorentum – womöglich alles leisten kann.