Documenta Fifteen

„Die Schleimspur der Kolonisation“

Die Künstlerin Chang En-Man realisiert auf der Documenta ein Projekt mit Riesenschnecken. Wir sprachen mit ihr über kulinarische Traditionen, eingewanderte Spezies und den Kampf der indigenen Bevölkerung von Taiwan

Von Lisa Zeitz
03.06.2022

Bei Amselgezwitscher, Glockengeläut und dem Hämmern und Sägen einer Baustelle sitzen wir auf Klappstühlen am Ufer der Fulda und blicken auf die Holzkonstruktionen, die zu Chang En-Mans Beitrag zur Documenta werden: eine Art Wartehäuschen, in dem bald Videos und Bilder gezeigt werden, und ein Floß, das ein Glasgehäuse erhalten wird. Auf Chinesisch erzählt sie von ihrem „Snail Project“, ihre Mitarbeiterin Shueh Ching übersetzt ins Englische.

Diese Documenta ist anders als alle vorhergehenden, weil so viele Kollektive eingeladen wurden. Arbeiten Sie auch im Team?

Ich bin als Künstlerin unabhängig, aber für die Website des Projekts „Invasion“ habe ich zusammen mit zwei Forschern gearbeitet.

Sie kommen aus Taiwan. Wie sind Sie aufgewachsen?

Mein Hintergrund besteht aus zwei verschiedenen Kulturen. Mein Vater ist Han-Chinese, der 1949 als Soldat, als Immigrant nach Taiwan kam, meine Mutter gehört dem indigenen Stamm der Paiwan an. Als sich meine Eltern scheiden ließen, wuchs ich bei meinem Vater auf. Die indigene Kultur wurde unterdrückt, vom Vater, von der Schule – von allen, von der ganzen Gesellschaft.

Am Bootsverleih Ahoi in Kassel wird ein Floß mit einem Glasgehäuse von Chang En-Mang anlegen. © Nicolas Wefers

Wie groß ist der Anteil indigener Völker in Taiwan?

Schätzungsweise 2 Prozent der Bevölkerung. Sie wurden, besonders früher, stark diskriminiert. Ich erinnere mich, dass Leute mit Steinen nach mir geworfen haben und mich als barbarisch beschimpften. Die Kultur meiner Mutter habe ich erst wahrgenommen, als ich älter wurde. Bei einem Besuch wurde ich auf die Schnecken aufmerksam, die eine wichtige Zutat in verschiedenen traditionellen Gerichten sind, auch bei Zeremonien. Ich war sehr neugierig auf diese Spezies, die so einen wichtigen Platz in der indigenen Küche besetzte. Das war der Anfang meines Schneckenprojekts.

Ich hatte noch nie von der Afrikanische Riesenschnecke gehört, daher habe ich sie gegoogelt und war etwas schockiert, als ich sah, wie groß sie werden kann. Eine Körperlänge bis zu 30 Zentimeter! Ich habe Fotos von diesen Schnecken gesehen, auf denen sie so lang und breit sind wie ein Unterarm, mit einem Gehäuse in der Größe einer Kaffeetasse. Sind sie in Taiwan auch so groß?

Oh nein! (Sie lacht.) Dann wären sie ja so groß wie ein Hund. Nein, die größte, die ich in Taiwan je gesehen habe, ist ungefähr so groß wie meine Hand. Auf jeden Fall allerdings größer als Weinbergschnecken.

Wann ist die afrikanische Landschnecke nach Taiwan gekommen? 

Die afrikanische Landschnecke wurde von japanischen Beamten eingeführt, als Taiwan eine japanische Kolonie war. Damals hat man gedacht, sie könnte nutzbringend sein, als Nahrung oder auch für den Handel, doch sie breitete sich unaufhaltsam aus und fraß sich durch die lokale Landschaft. Das war ein Problem. Mittlerweile haben sich alle irgendwie daran gewöhnt, an einem verregneten Tag überall Schnecken zu sehen oder mit dem Fahrrad auf einer Schnecke auszurutschen. Beide Gruppen, Han-Taiwanesen und Indigene, haben sich teilweise von Schnecken ernährt, aber heute essen nur noch Indigene sie.

Gibt es viele verschiedene Gerichte mit Schnecken oder nur eines?

Die Schnecke wird in vielen Gerichten verwertet. Sie ist billig, kostet fast nichts. Für arme Leute auf dem Land und in den armen Bergregionen bieten Schnecken eine gute Eiweißquelle, besonders für alte Leute. Es sind die Älteren, die Schnecken sammeln und sie mit wilden Kräutern zu einer Suppe kochen. Kinder mögen diese Suppe meist nicht. Es ist ein typisches Alte-Leute-Essen. Lustig ist, dass wir auch in Taipeh einfache Lokale haben, die im Freien zum Beispiel frittierten Fisch zubereiten. Dort ist ein Schneckengericht sehr populär, dazu wird Bier getrunken. Es ist sehr beliebt, doch kaum einer, der es bestellt, weiß, dass es wirklich mit Schnecken gekocht wird.

Afrikanische Riesenschnecke Documenta Fifteen
Zur Gattung der Afrikanischen Riesenschnecke gehören die größten Landlungenschnecken der Erde. © Wikimeida Commons/ Topi Pigula

Sie haben durch die kulinarische Tradition Ihrer Mutter eine Verbindung zum kulturellen Hintergrund der indigenen Bevölkerung geknüpft. Wie wurden Sie dabei zur Künstlerin?

Eigentlich war es so, dass ich zu dieser Zeit schon an der Kunstschule von Taipeh war. 2010, als ich die Heimat meiner Mutter besuchte, war die indigene Kultur für mich wie ein Schock. Seitdem habe ich mein Interesse an der Kultur in die Kunst einfließen lassen.

Was sagt Ihre Mutter dazu?

Meine Mutter hat nicht wirklich verstanden, was ich da mache, aber sie hat bemerkt, dass die indigenen Stämme seit der japanischen Kolonialzeit nach den Regeln ihrer Besatzer gelebt und wertvolle Teile ihrer eigenen Kultur verloren haben. Das sind die Themen, an denen ich interessiert bin. Wie kann man die Umstände ändern? Eine Transformation herbeiführen? Ich meine keine Gesellschaftsreform oder Revolution, sondern die Frage, wie man mit Kunst die Traditionen neu beleben kann.

Das ist Ihnen mit den Paiwan und dem „Snail Project“ schon gelungen.

Ja, dabei habe ich mit meinem eigenen Volk zusammengearbeitet. Die Leute waren sehr verwundert, warum ich nicht etwas Schöneres aus unserer Kultur herausgepickt habe. Warum eine Schnecke? Warum kein nobleres Element? Warum nicht etwas in leuchtenden Farben? Stattdessen ein niederes Tier, eine schleimige Schnecke. Während der Zusammenarbeit, im Prozess der Kollaboration, haben die Leute aber angefangen zu verstehen. Sie haben die Geschichte und den Hintergrund kennengelernt. Es war durch diesen Prozess wie eine Erweckung.

Chang En-Man Documenta Fifteen
Chang En-Mans Installation „Snail Paradise" auf der Singapore Biennale im Jahr 2019. © Singapore Biennale

Ist das für Sie ein Beispiel dafür, wie Kunst Transformation bewirkt?

Ja, das ist mir ein wichtiges Anliegen.

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