Protestkunst aus Australien und Indonesien, Filme und Theater aus Uganda und Mali: So international wie die Documenta 15 war noch keine Ausgabe. Wir stellen die spannendsten Positionen und Spielorte im Kurzüberblick vor
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10.06.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 200
Jede Ausgabe der „Weltkunstschau“ entdeckt Kassel von einer neuen Seite: Unter den 32 Ausstellungsorten finden sich diesmal neben gewohnten Anlaufstellen im Zentrum wie dem Fridericianum, den Karlsauen oder der Documenta-Halle auch einige Spielstätten im bisher vernachlässigten Osten der Stadt. Das Viertel Bettenhausen ist von vierspurigen Einfahrtsstraßen und weitläufigen Industriearealen geprägt. Und doch bietet es in seinen Nischen spannende Räume für die Kunst:
Ein wahres architektonisches Kleinod ist das Hallenbad Ost an der Leipziger Straße. Als eines von nur wenigen Bauhaus-Gebäuden in Kassel wurde es 1929 errichtet, und bis 2007 konnte man dort Bahnen ziehen. Nun tobt sich das indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi in den Hallen aus und präsentiert Plakate und lebensgroße Pappfiguren.
Wie die Gruppe seit Ende der 1990er-Jahre die Kunstszene Indonesiens mit politischen Holzschnitten und gesellschaftskritischem Puppenspiel prägte, lesen Sie in unserem Spezialheft zur Documenta, das am 5. Juli erscheint.
Ebenfalls an der Leipziger Straße liegt die aufgegebene Kirche St. Kunigundis. Hier zeigt die Gruppe Atis Rezistans (Haiti) aus Pappkartons gebastelte urbane Fantasien, die gut zum rauen Charme des sakralen Baus aus dem Jahr 1927 passen.
Das Hübner-Areal ist die ehemalige Produktionsstätte eines Herstellers von Bauteilen für Busse, Bahnen und Panzer. Nun herrscht dort künstlerische Betriebsamkeit: Die Fondation Festival sur le Niger aus Mali veranstaltet Konzerte und Theaterabende, die Gruppe Boloho aus China dreht eine Sitcom, und der indische Künstler Amol K Patil lädt Skater zum Schaulaufen ein.
Auf der Documenta der Kollektive ist Richard Bell eine Ausnahmeerscheinung, da er allein arbeitet. Doch dafür hat der 1953 geborene Aborigine aus dem australischen Brisbane Energie für zehn! Eigenhändig legt er sich in Malereien, Skulpturen und Videos mit all jenen an, die den Ureinwohnern Australiens immer noch mit Vorurteilen und Rassismus begegnen. Und die Zeit der verharmlosenden Worte ist für ihn vorbei: „I am not sorry“ schrieb er 2003 auf ein Bild. Ein Bekenntnis zur eigenen Identität, das er aber – um Denkschubladen auszuräumen – auf einen bunten Hintergrund malte, der an amerikanische Farbfeldmalerei und abstrakten Expressionismus erinnert. Mit Volkskunstklischees kann er dagegen nichts anfangen: „Aboriginal Art ist eine weiße Sache“ verkündet ein anderes Bild. Solche Malereien sind nun im Fridericianum zu sehen, während auf dem Friedrichsplatz davor Bells Zeltskulptur „Aboriginal Embassy“ von 2013 als Diskussionsort und temporäres Botschaftsgebäude der australischen Ureinwohner in Kassel fungiert.
BUM, BUM UND BALLZAUBER
Fußball und Kidnapping sind zwei Themen, die sich normalerweise nicht in einem Kunstwerk vereinen. Doch der Regisseur Isaac Nabwana hat es in seinem neuesten Meisterwerk geschafft. Wakaliga Uganda heißt sein Filmstudio in einem Armenviertel der ugandischen Hauptstadt Kampala. Dort dreht der 49-Jährige auf extrem budgetschonende Weise einen kultigen Actionschocker voller Kunstblut und Computerexplosionen nach dem nächsten. Sein verrückter Fußballkrimi ist in Kassel in der Documenta-Halle zu sehen. Und eine ausführliche Reportage von den Dreharbeiten in Uganda lesen Sie ebenfalls in unserem Documenta-Sonderheft.
Weil das Zentrum für Kunst und Urbanistik (ZK/U) in Berlin-Moabit baulich erweitert wird, braucht es seinen Dachstuhl nicht mehr. Drei Künstler des Zentrums kamen auf die gloriose Idee, die Dreiecksform einfach umgedreht zu denken und das alte Holz für ein Boot zu verwenden. Dies fährt nun, getauft auf den Namen „Citizenship“, während der Documenta von der Hauptstadt über Flüsse und Kanäle bis nach Kassel. Los ging’s am 2. Juni. Unter anderem mit an Bord: ein Elektromotor, der von Solarzellen und Pedalkraft unterstützt wird, selbst gebaute Musikinstrumente und eine eigene Schiffsschneiderin. Informationen zum Programm an den Zwischenstationen bietet die Website citizenship.zku-berlin.org. Zudem berichten wir im Documenta-Sonderheft von der weiteren Reise.