Im Musentempel dampft die Kunst. Aber wie lange noch? Die Ausstellung „Nature and State“ der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden stellt unbequeme Fragen nach der Zukunft von Natur und Zivilisation. Ein Erlebnisbericht
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21.07.2022
Auf der Parkpromenade saust ein Mann auf einem Dreirad vorbei. Er lauscht seinem eigenen Soundtrack, lautem deutschen Rock, und sieht Elvis ein bisschen ähnlich. Das ist die Art von Alltagstheater, die ich liebe: improvisiert, unerwartet. Im selben Moment entdecke ich ein kleines Fachwerkhaus am Rande einer weitläufigen Wiese. Auf einem Schild lese ich, dass dieses sogenannte Hirtenhäuschen ein Geschenk Kaiser Wilhelms an seine Gemahlin Augusta war. Ein malerischer Rastplatz, an dem sie auf ihren täglichen Wanderungen zum nahe gelegenen Kloster Lichtental einfach mal die Füße hochlegte. Seltsam, die Torheiten des wohlhabenden Adels. So reich, dass er ein bisschen Armut vortäuschte, Zeit in einer Hütte verbrachte, um das gemeine Volk zu fühlen. Schon Marie Antoinette gab in ihrem Staffagedorf Hameau de La Reine mit einem silbernen Rechen in der Hand die Bäuerin. Das Volk nahm ihr diese Unbekümmertheit bekanntlich sehr übel.
Das Baden-Baden der Belle-Époque hat mich schon immer angezogen. Ich bin schwimmsüchtig, und wo könnte ich besser aufgehoben sein als in dieser Stadt, deren Name so gut ist, dass man ihn gleich zweimal sagen muss. Eine Stadt, die sich dem gemächlichen Freizeitvergnügen verschrieben hat. Man dreht keine Runden im Schwimmbecken, sondern lässt sich von Thermalwasser sanft umfließen.
Dabei hat mich Baden-Baden nicht gerade sanft aufgenommen. Ich versuche, mein Hotel am berühmten Römerplatz zu finden (direkt darunter liegt eine fabelhaft erhaltene antike Badeanlage). Doch jeder, dem ich begegne, scheucht mich entweder mit einer unhöflichen Handbewegung weg oder weigert sich, mich überhaupt anzusehen. Ich habe die Hoffnung schon fast aufgegeben (meine Maps-App funktionierte nicht, es ist schwül, ich bin in den Wechseljahren und spät dran!). Doch dann kommt mir diese nette, alte Dame entgegen. Sie leuchtet. Meine Retterin.
Ich eile zur Kunsthalle, denn zur Eröffnung der Ausstellung „Nature and State“ bin ich schließlich angereist. Zwei sehr radikal denkende Freunde von mir leiten jetzt diese Institution. Sie bringen mehr als nur einen Hauch von frischem Wind nach Baden-Baden. Keiner der beiden verfolgt einen traditionellen Ansatz. Çağla İlk – in Istanbul zur Architektin ausgebildet – kommt vom Berliner Maxim-Gorki-Theater, wo sie als Dramaturgin und Kuratorin für spartenübergreifende Projekte verantwortlich war. Und Misal Adnan Yıldız, der in Istanbul Psychologie studiert hat, predigte bei seinen bisherigen Ausstellungsvorhaben unter anderem in Auckland, Paris, Gent, Berlin und Stuttgart schon immer kollektive Praktiken. Ihre neue, dezidiert politische Programmausrichtung schlägt sicher Wellen in dieser vielleicht ein bisschen zu selbstgefälligen Kurstadt. Worum geht es nun in „Nature and State“? Leitmotiv ist das Wasser, wahrlich keine Überraschung in einer Hochburg der Badekultur, und doch kommt alles anderes als erwartet.
Der Hauptsaal der Kunsthalle, ein Bau des späten Jugendstils mit Tageslichtdecken, wurde in einen dampfenden, säulenbewehrten Tempel verwandelt. In der Mitte des Raums führen Stufen zu einem abgesenkten, flachen Becken. Das Licht ist blau, Nebelmaschinen erzeugen eine außerweltliche Atmosphäre. Dies ist nicht irgendeine Therme in Baden-Baden, sondern ein liebliches Jenseits. Der umlaufende Fries wurde mit Bäumen auf blauem Grund bemalt, die auf die Vorstellung vom Wald als Tempel verweisen. Trompe-l’œil-Wurzeln bahnen sich ihren Weg die Säulen hinab und erobern den Boden. Andererseits könnte man sie auch als Dürrerisse in diesem Feuchtbiotop wahrnehmen. Der Raum ist mit monumentalen Vexierspiegeln ausgekleidet. Skulpturen sind beiläufig platziert wie Spielzeug in einem Kinderparadies, das darauf wartet, verfrachtet und benutzt zu werden. Plötzlich treten nur mit einer Badehose bekleidete Männer auf. ¡Hola! Ihre trainierten Körper erinnern an antike griechische Skulpturen. Es folgen Frauen in Schwimmanzügen: Ok, idealisierte Schönheit ist offensichtlich Teil der Performance „Becoming Sculptures“, die vor allem daraus besteht, dass sich diese Menschen im seichten Wasser aalen oder wie langbeinige Flamingos am Beckenrand umherstelzen.
Der Berliner Theaterregisseur Ersan Mondtag hat dieses Spektakel und den dazugehörigen feuchten, temporären Musentempel ersonnen, der langsam, aber sicher austrocknet. In Mondtags begehbares, atmendes Kunstwerk sind Beiträge anderer Kunstschaffender integriert, etwa die weichen, ineinander verschlungenen Riesenfroschskulpturen von Kavachi oder Karin Cernys „Normcorepottery“, übergroße Alltagsdinge aus Keramik. Eine Leuchtschrift von Egemen Demirci ruft die dem Leben innewohnende Schizophrenie wach: „Things Are Always Better Than You Think and Worse Than You Hope For.“
Die Ausstellung arbeitet nicht mit starren Kunstsetzungen, sondern umfängt mich als organisches Wesen. Im Mittelpunkt steht das Theater, und ein Veranstaltungsprogramm über den ganzen Sommer garantiert dafür, dass die Kunsthalle ein lebendiger Ort bleibt. Eine „Untersuchung von Kontinuität und Ungehorsam“ wird versprochen. Ich frage mich, wie diese Kontinuität wohl aussieht. Robert Lippoks Installation „Unsere Erde ist ihr Mond, unser Mond ist ihre Erde“ könnte dafür stehen. Auf einem lavarot leuchtenden Tisch sind verschiedene mundgeblasene Glasgefäße arrangiert. Sie geben Klänge wieder, die in der unmittelbaren Umgebung der Kunsthalle aufgenommen und in den Glaskörpern gespeichert wurden. Mich ermutigt das, ganz nahe heranzutreten und genau hinzuhören.
Wahre Überlebenskünstler scheinen die parasitären Wüstenpflanzen in Ayman Zedanis Videoarbeit „The Desert Keepers“ zu sein. Oder dienen sie als Metaphern für die „möglichen Formen der Transformation des Staates“, wie es der Begleittext vage umschreibt? Gerade wenn man denkt, furchtbarer Klimawandel, alles ist hoffnungslos verödet, sprießt eine Hybridpflanze aus dem Sand.
Silvina Der Meguerditchian schließlich lässt Fäden aus den Wänden hervorquellen. Sie erzählen von der in der Kindheit der Künstlerin wurzelnden, mit Furcht gemischten Faszination für „unzugängliche und unbekannte Räume“. Im übertragenen Sinne gehören auch Staat und Zivilisation dazu. Bei ihren Recherchen zur Ausstellung „Nature and State“ fanden Çağla İlk und Misal Adnan Yıldız in dem Buch „The Dawn of Everything, a New History of Humanity“ (2021) einen roten Faden. Lesen Sie es. Das Autorenduo David Graeber und David Wengrow hat 200 000 Jahre Menschheitsgeschichte untersucht und festgestellt, dass frühe Gesellschaften diverser und politisch komplexer, also weniger hierarchisch organisiert waren, als wir bislang annahmen. Nehmen sich Zeit, gehen Sie nach Baden-Baden. Vielleicht erleben auch Sie ein Theater des Unerwarteten.
„Nature and State “
Staatliche Kunsthalle Baden-Baden
bis 16. Oktober 2022