Auf den Rencontres d’Arles zeigt der Fotograf Daniel Castro Garcia Bilder von afrikanischen Migranten und will die mediale Sicht auf Geflüchtete verändern
Von
12.07.2022
Auf welches Land spielt der Titel Ihrer Arbeit „I Peri N’Tera“ an?
Der Titel meines Projekts „I Peri N’Tera“ geht auf ein sizilianisches Sprichwort zurück, das bedeutet, dass man mit seinen Füßen auf dem Boden bleiben soll. Man sagt, dass Menschen sich nicht von ihren Träumen davontragen lassen sollen, um ihnen eine Bodenständigkeit nahezulegen. So hat man es auch zu mir gesagt, als ich 2015 zum ersten Mal in Sizilien war und die Arbeit an dem Projekt begonnen habe. Zu diesem Zeitpunkt kamen fast jeden Tag Geflüchtete an, und ich erinnere mich, wie sehr es mich schockierte, wie sie in den Medien abgebildet wurden: als Horde, als Masse, teilweise sogar mit grauenhaftem Vokabular beschrieben. Es hat mich unglaublich wütend gemacht und ich wollte an dieser Repräsentationsweise etwas ändern.
Wie hat das Projekt dann Fahrt aufgenommen?
Nachdem ich mich dazu entschieden hatte, ein Fährenticket zur Insel Lampedusa zu lösen, die sich schon damals als Epizentrum des Flüchtlingsgeschehens abzeichnete, blieb ich dort eine Woche. Natürlich hatte ich die Hoffnung, Menschen kennenzulernen und zu fotografieren. Denn ich wollte wahrhaftige Porträts schaffen, die mit den Hordenbildern der damals in den Medien publizierten Agenturfotos brechen und eine andere, individuellere Realität zeigen. Doch als ich auf Lampedusa ankam, hatte die italienische Regierung gerade damit begonnen, alle Rettungsoperationen aufs Festland zu verlegen; denn da die Bewohner von Lampedusa primär auf Einnahmen aus dem Tourismus oder Fischerei angewiesen waren, versuchte die Regierung, die Insel vor weiteren Flüchtlingen abzuschirmen und die Ströme umzuleiten. Aus heutiger Sicht war das ein glücklicher Zufall, denn so hatte ich mehr Zeit, mich auf der Insel umzusehen, und entdeckte nach einigen Tagen ein verlassenes Gebäude, das die Geflüchteten in eine Art Reception Center umgewandelt hatten. Ein Großteil der hier gezeigten Fotografien sind dort entstanden.
Und diese zeigen nicht nur Menschen, sondern auch Gegenstände …
Gegenstände, Kleidungsstücke, Graffiti – jede Form menschlicher Spuren, die auf die Situation verweisen. Wie beispielsweise auch der Friedhof der Insel, auf dem nummerierte Steine an jene Menschen erinnern, die auf dem Weg ihr Leben verloren haben. Und dann natürlich die vielen Bootsfriedhofe rund um die Insel, auf denen die teils schwer beschädigten Schlauchboote aufbewahrt werden. Dort fand ich häufig noch Kleidungsstücke, Schuhe, Schwimmwesten mit eingeritzten Handynummern. Nach ein paar Wochen beschloss ich dann, wieder nach Sizilien überzusetzen. Hier kam es dann zu den ersten sehr wichtige Begegnungen mit Menschen, die dazu bereit waren, mir ihre Geschichte zu erzählen. Und immer mehr kristallisierte sich für mich heraus, dass es genau darum bei dem Projekt gehen würde: um einen wahrhaftigen Dialog, eine Berührung mit jenen Menschen, die gerade erst in Europa angekommen waren.
Wie kam es dann zu den Begegnungen zwischen Ihnen und den Geflüchteten?
In Sizilien musste man nur durch die Straßen gehen: So entdeckte ich beispielsweise ein verlassenes Parkhaus, das inzwischen trotz seiner Baufälligkeit von Eriträern als Unterschlupf genutzt wurde. Sie schliefen dort und warteten darauf, irgendwie weiterziehen zu können. Ich bin auf sie und auf andere Gruppen zugegangen, habe ihnen mein Konzept erklärt und erst dann die Kamera mitgebracht. Natürlich wollten nicht alle fotografiert werden, aber einige schon. Ein anderer Schlüsselort für mich war der Hafen von Catania, wo ich Zugang zu einem Ankunftszentrum erhalten konnte. Hier wurden die große Erschöpfung und die Traumata der Reise natürlich besonders sichtbar. Die meisten Menschen, die hier ankamen, hatten die Sahara überwunden und dann von Libyen aus das Mittelmeer überquert. Natürlich litten viele von ihnen am posttraumatischen Stresssyndrom, ein weiterer Umstand, den die meisten Medien kaum oder gar nicht beleuchten.
Ging es Ihnen darum, ihnen eine Sichtbarkeit zu geben?
Es ging mir nicht so sehr um die Sichtbarkeit, sondern um einen respektvollen Umgang in der Repräsentationsweise. Eine Fotokamera ist ein Werkzeug, aber eben auch eine Waffe. Bilder sind immer aufgeladen oder manipulativ, und ich habe versucht, meine Kamera als friedlichen Begleiter einzusetzen. Ich wollte auf keinen Fall das Abbild der von mir porträtierten Menschen stehlen, sondern sie am Entstehungsprozess der Bilder teilhaben lassen. Diese Interaktion zwischen den Porträtierten, mir und der Kamera sieht man in den Bildern. Meine Hoffnung ist, dass die Betrachter durch diesen Blick für die problematische Darstellung in anderen Medien sensibilisiert werden. Mir persönlich hat es jedenfalls dabei geholfen, die Motive dieser Menschen zu verstehen, die sich auf ihrer Flucht so großen Gefahren aussetzen.
Ihre Geschichten sind in Arles auf kleinen Texttafeln zu lesen.
Die Texte sind ein fundamentaler Bestandteil des Ausstellungskonzepts. Die Idee dafür entstand auf einer Reise in den Senegal im Jahr 2018. Dort entdeckte ich alte Pressefotos aus den 1960er und 1970er Jahren aus Kamerun, Kongo und Westafrika. Sie waren alle beschriftet und die Texte enthielten mehr Informationen als die kleinen Bildunterschriften in unseren Medien. Auch diese Verkürzungen in unserem Bildjournalismus wollte ich versuchen zu hinterfragen. Die Texte, die ich gemeinsam mit den Porträtierten verfasst habe, vertrauen den Betrachtern wichtige und teils intime Informationen an, um eine Form der Begegnung – und damit einen Perspektivwechsel – zu ermöglichen.
Seit Sie mit dem Projekt begonnen haben, sind sieben Jahre vergangen. Wie blicken Sie heute auf das Thema?
Es macht mich ein wenig ratlos, dass wir immer noch so wenig dazugelernt haben. Wir sprechen immer noch über Flüchtlingsströme und Migration wie über ein Thema, das nur jene Menschen betrifft, die sich auf den Weg machen. Wir sprechen über Schlepperbanden und über Menschenhandel, aber wenig darüber, wie sehr jeder Einzelne in unserer Gesellschaft mit diesem Thema konfrontiert ist. Wenn du heute in den Supermarkt gehst und Obst oder Gemüse aus Italien oder Spanien kaufst, kannst du dir ziemlich sicher sein, dass es von afrikanischen Geflüchteten geerntet wurde, die zu einem Hungerlohn arbeiten. Als unmittelbare Folge von Kriegen und Klimawandel wird Migration unsere Gesellschaft nachhaltig verändern – und es ist an uns, unseren Umgang untereinander zu verändern. Die Art und Weise, wie wir auf unsere Mitmenschen blicken und sie zeigen, ist ein Anfang.
„Dress Code“
kuratiert von Anne-Marie Beckmann
Fondation Manuel Rivera-Ortiz, Arles, Frankreich
bis 25. September
Daniel Castro Garcia ist Foam Talent der Deutschen Börse Photography Foundation