Louise Bourgeois in Berlin

Nach Stich und Faden

Louise Bourgeois wuchs in einer Familie auf, die mit Tapisserien ihr Geld verdiente. Erste eigene Stoffwerke schuf die große Bildhauerin jedoch erst am Ende ihres Lebens. Der Gropius Bau holt ihr beindruckendes textiles Spätwerk nun nach Deutschland

Von Laura Storfner
26.07.2022

Kleider, da war sich Louise Bourgeois sicher, transportieren Geschichten. „Du kannst dein Leben nacherzählen anhand der Form, des Gewichts, der Farbe, des Geruchs der Kleidung“, sagte sie einmal. Doch bevor sie die Schränke ihrer Vergangenheit öffnete, sollten Jahrzehnte vergehen. Bourgeois war über achtzig, als sie ihre ersten Textilarbeiten schuf, in denen sie die Stoffe ihrer Kindheit – im konkreten und übertragenen Sinn – verarbeitete. 

Die Ausstellung „Woven Child“ des Gropius Baus lässt Bourgeois‘ textile Lebensgeschichte mit den „Pole Pieces“ beginnen. Diese abstrakten Kleiderständer erinnern an tote Bäume, und in einem Werk der Serie von 1996 hat die Künstlerin die kargen Stahlverästelungen mit alten Kleidern der Mutter geschmückt. Negligés aus Spitze sind auf Bügeln aus Rinderknochen drapiert. Fleckig, vergilbt, verstaubt zeigen die Stücke Spuren des Alters: Das Leichte und das Schwere, die Lust und der Tod bleiben in dieser Arbeit in der Schwebe. Dass es sich hier nicht nur um eine Garderobe handelt, an der Erinnerung abgelegt wird, sondern auch um einen Familienstammbaum, davon erzählt eine Notiz, die Bourgeois in den Sockel eingeschweißt hat: „Seamstress, Mistress, Distress, Stress“. Das Wortspiel bringt den Schmerz, den Bourgeois bis zur ihrem Tod 2010 als künstlerischen Antrieb nannte, auf den Punkt.

Geboren 1911 in Paris, wuchs Bourgeois in einem Umfeld auf, das von Stoffen lebte: Ihr Vater betrieb eine Galerie für historische Wandteppiche, ihre Mutter eine Werkstatt, die ebenjene Tapisserien restaurierte. Schon als Mädchen verbrachte Bourgeois ihre Zeit im Atelier, saß zwischen den Näherinnen und sah der Mutter über die Schulter, wenn diese Löcher stopfte und flickte. Während sich das Verhältnis zum Vater schwierig gestaltete, spätestens nachdem dieser seine Geliebte als Privatlehrerin im Haus angestellt hatte, war die Bindung zur Mutter umso stärker – allerdings auch von Ambivalenz geprägt. In Bourgeois‘ späten Werken ist zu spüren, wie die Künstlerin die Wut auf die geliebte Mutter, die den Verrat des Vaters duldete, wiedergutmachen will.

Der engen Beziehung zur Mutter setzte sie in ihren „Mamans“, den Riesenspinnen aus Bronze, ein Denkmal. Die Spinne, Sinnbild für Gefahr und Ekel, wird bei Bourgeois umgedeutet: Sie verkörpert die fleißige Spinnerin, die geduldig webt, aber auch das Raubtier, das für sich selbst zu sorgen weiß. So taucht die Spinne als stille Matronin auch im Gropius Bau auf, wo ihr ein eigener Saal gewidmet ist. Hier thront sie über einer „Cell“ von 1997, den käfigartigen Räumen, für die Bourgeois berühmt wurde. Das Tier schließt mit seinen grazilen Stahlbeinen die Erinnerung ein, ganz so als hätte es die Maschen des Käfigs selbst geknüpft. Die Dualität zwischen Rückzugsort und Gefängnis, der Spinne als Beschützerin und Wächterin, lässt diese „Cell“, genau wie die Rolle der Mutter, zum Kippbild werden.

Auch das zwiespältige Verhältnis zur eigenen Mutterschaft – Bourgeois zog gemeinsam mit ihrem Mann, dem amerikanischen Kunsthistoriker Robert Goldwater, drei Kinder groß – verarbeitete die Künstlerin im Alter. Dem „Woven Child“, das der Ausstellung den Titel leiht, widmete sie 2003 ein gleichnamiges Stoffbuch. In einfachster Webtechnik wird der schwangere Frauenkörper im Ganzen und als Fragment darstellt. Die miteinander verflochtenen bunten Bänder stehen für die untrennbare Verbindung zwischen Mutter und Kind.

Die Idee der Reparatur als zwischenmenschliche Wiedergutmachung untersucht Bourgeois im Spätwerk verstärkt. Während ihre Mutter Textilien so ausbesserte, dass der Prozess unsichtbar blieb, betonte Bourgeois den Vorgang des Wiederherstellens: Intakte Stoffe aus ihrer Kindheit wie Bettwäsche, Laken und Wandbehänge zerschnitt sie absichtlich, um sie mit groben Nähten wieder zusammenzusetzen. Ihre Reparaturen haben Narben im Stoff hinterlassen. Wer heilt, scheint Bourgeois zu sagen, muss nicht makellos sein, muss seine Wunden nicht verstecken.

Von dieser Ermutigung sind auch die Textilköpfe, die Bourgeois ab 1998 fertigte, durchzogen. Nicht als Porträts, sondern als Abbilder von Gefühlszuständen angelegt, liegt ihre Nahbarkeit in der rohen, bewusst unbeholfenen Machart. Indem Bourgeois sie ausgestopften Präparaten gleich in gläsernen Vitrinen präsentiert, fordert sie dazu auf, die verzerrten Gesichter genau zu studieren und ihren Schmerz nachzufühlen.

In den über 80 Arbeiten, die im Gropius Bau versammelt sind, zeigt sich Bourgeois als emsige Näherin, aber auch als Künstlerin, die ihr eigenes Narrativ weiterspinnt: Zeit ihres Lebens interessierte sie sich für Psychoanalyse und unterzog sich ab 1952 selbst einer Therapie – Kunst ist bei ihr stets auch Seelenschau. Immer wieder drängt Bourgeois auf die autobiografische Leseart ihrer Werke, das Freilegen der tiefen persönlichen Abgründe. Doch zwischen all den bewusst gestreuten Bezügen scheinen die großen Lebensthemen durch: Liebe, Schmerz, Versöhnung und Heilung. Diese Leistung, das Selbsterlebte universell wirken zu lassen, macht den Reiz der Ausstellung aus. Selten konnte man Louise Bourgeois‘ Geschichte – aber auch der eigenen – so nahekommen wie hier.

Service

Ausstellung

„Louise Bourgeois: The Woven Child“,

bis 23. Oktober 2022,

Gropius Bau, Berlin,

www.gropius-bau.de

KATALOG

„Louise Bourgeois. The Woven Child“ (2022)

Hrsg. Stephanie Rosenthal, Ralph Rugoff

Text(e) von Lynne Cooke, Rachel Cusk, Julienne Lorz, Ralph Rugoff, Gestaltung von Joseph Logan

208 Seiten, 179 Abb.

hatjecantz.de

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