Während narzisstische Milliardäre und ruchlose Populisten Börsen und Demokratien taumeln lassen, können Ego-Bubbles im Reich der Kunst äußerst bereichernd sein. Wie jetzt in München die fabelhafte Welt des Misha Kahn
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25.07.2022
Es gibt in unserer Gesellschaft – neben all den schrecklichen Auswüchsen mit orangen Haaren, eitlen Reden, wirren Taten und zu langen Tischen – tatsächlich einen guten Narzissmus. Er ist in der Welt der Kunst zu Hause und hört auch auf den Namen Eigensinn. Im Museum Villa Stuck zum Beispiel wohnt er als quasi eingebautes Phänomen schon lange. Genau hier, wo der exzentrische Münchner Universalschöpfer Franz von Stuck vor 125 Jahren ein Wohnhaus ganz und gar als persönliches Gesamtkunstwerk erbaute, stellten in den vergangenen Jahrzehnten viele Großmeister der Selbstbespiegelung aus: Luigi Ontani, Robert Wilson, Marina Abramovic, Christo – um nur einige zu nennen. Mit Misha Kahns Ausstellung „Under the Wobble Moon. Objects from the Capricious Age” ist aktuell eine besonders explizite Offenbarung des Exzentrischen in die alten Jugendstilmauern eingezogen: Die geheimen Privatutensilien der „Star Wars“-Zwischenwesen – so könnte man angesichts der popbunten Exponate glauben – sind dorthin extra ausgebüxt, um sich den Sommer über für das Metaversum zu präparieren!
Die Schau des jungen Amerikaners sperrt uns die Tür zu einem völlig neuen Kosmos, einer kompromisslosen Eigenwelt auf. Halb kunsthandwerklich-analog, halb versponnen-digital. In Kahns teils extra für den Ort geschaffenen Interieurs – Stühle, Tische, Leuchten, Bilder, figurale Objekte – kann jede und jeder immer wieder neue Farbverläufe, Widerhaken, Wirbel oder Glanzlichter entdecken. Zusammen erscheinen Kahns Mischwesen aus Typ und Ding wie das künstlerische Analogon unseres Lebens im beginnenden Quantenzeitalter. Wo auch kein Mensch mehr weiß, welchen der Milliarden Hebel er/sie/es fürs Lebensglück als nächstes umlegen soll. Und die famosen Objekte von Kahn gehen auch gleich noch eine positive Beziehung mit den Gemälden, Skulpturen, Möbeln und Architekturelementen jener anderen Sonderwelt ein, in der sie zu Gast sind.
Was man hier lernen kann? Dass wir die Früchte solcher durchaus egozentrischen Portfolios des Kapriziösen in Ruhe genießen dürfen. Denn sie wachsen aus den Tiefen der Fantasie, in deren Wirkräumen, vom ersten bis zum letzten Millimeter, allein das Recht eines Künstlers gilt. Diese Angebote mögen eigenwillig sein – doch sie geben uns viel, sie schaden niemandem, und sie nehmen auch keinem etwas weg. Sie sind harmlos. Im Gegensatz zu gruseligen Polit-Allmachtsträumern oder skrupellosen Maulhelden, die mit ihrem Insider-Quark die Börsenkurse rauf und runter reden. Bei Mischa Kahn aber ergibt die hundertprozentige Konzentration auf das Künstler-Selbst Sinn. Denn er verbindet reale, fiktive und virtuelle Aspekte zu einer Melange, die etwas über unsere Zeit mitteilt, was wir so noch nie gehört oder gesehen haben.
Der 33-jährige, in Minnesota geboren und in Brooklyn lebend, befüllt in seiner ersten großen Ausstellung in Europa die alte Künstlervilla mit 40 verführerisch blinkenden oder popbunt lärmenden Kunst-Möbeln aus Müll, Glas, Keramik, Bronze, Plastik und Autolack – nebst nagelneuen kleinen und großen Objekten aus dem 3-D-Drucker. Alle Gegenstände – Bilder, Skulpturen, Inflatables – sind mit einem gleißenden Glanz aus Trash und zugleich Kostbarkeit überzogen. Eine fiebrige Eleganz, wie sie in seltenen Fällen auch das Nicht-Elegante ausstrahlt, wappnet sie. Jeder für sich ist geheimnisvoll und extrovertiert und futuristisch. So treten sie uns entgegen: Vorboten einer Zeit, in extreme Vielförmigkeit gekleidet, mit immer neuen Mikrodetails aufwartend. Und also perfekt das kommende Informationschaos illustrierend. Kahn entwirft Objekte ohne Vorgeschichte, ohne Vorbild. Er blickt in seiner Schau zurück auf eine Zeit, die noch vor uns liegt. Ein Kunstgriff, der ihm hilft, aus all dem auch noch eine schillernde Denkwelt zu entwickeln. Ein Text – aus der Zukunft – weist jedem Exponat eine klare Geschichte und Bedeutung in einer uns unbekannten Welt zu, die wiederum in unserer Zukunft liegt. Kahn braucht dafür keine Leitplanken, sein Reich kommt ohne uns und andere aus. Er ist das Gegenteil eines Influencers, aber seine Motive sind dazu auch noch ziemlich instagrammable. Tausende Bilder davon füllen das Internet.
Das ist also, wenn man so will, die nächste feine Eskalationsstufe jener Interior Fine Art, die vor 20 Jahren begann, als Zaha Hadid sündteure aerodynamische Bänke und Tische aus dem Rechner schlüpfen ließ – und Tobias Rehberger, Jorge Pardo, Heimo Zobernig, Franz West und Co. ihre mobiliaren Kunst-Interventionen ins Rennen schickten. Vergleichsweise sind das aber geradezu Home Sweet Homes. Mischa Kahn tunt sie nun, gemeinsam mit Kuratorin Kellie Riggs, zu einem faszinierenden Narrativ, das die einzigartigen Ding-Wesen in eine andere Galaxie beamt. Er entwirft im Bewusstsein des Klimawandels eine überaus präsente und haptische Gegenstandswelt, die er mit einer allumfassenden virtuellen Realität interagieren lässt. Und erforscht so die Möglichkeiten und Notwendigkeiten, die sich aus dieser Transformation ergeben.
Diese extreme künstlerische Egomanie ist auch als Gegenentwurf zum um sich greifenden Kollektivismus lesbar. Der eröffnet zwar in Form von Sharing Economy, Scrum Management, neuem Teamplay, Co-working und Co-living gerade großartige neue Aktionsfelder. In der Kunst aber hat er seine Grenzen – wie auch die Documenta kürzlich geradezu dramatisch schmerzhaft erfuhr. Die Kunst wird auch in Zukunft vor allem von Individualismus und Unterscheidung geprägt sein. Ihre größte Faszination entfaltet sie, wo sie irre überraschend, extrem anregend, fantastisch inspirierend wirkt. So ist der Eigensinn von Schauen wie dieser gänzlich positiv – und aktuell der beste Ausweg aus unserem Orkus der Halbwahrheiten. Er ist die helle Seite der Filterblasen-Welt.
„Under the Wobble Moon. Objects from the Capricious Age“,
bis 21. August,
Villa Stuck, München,