Dieser Kunstsommer hat einiges zu bieten – von Annelise Kretschmers Fotografien in Münster über Bellotto in Dresden bis zur Feministin Rosemary Mayer in München
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01.07.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 200
Annelise Kretschmer wird in dieser Einzelausstellung als Porträtistin der „Neuen Frau“ vorgestellt. Und zweifellos war die Fotografin in den Zwanzigerjahren eine ebensolche. Nicht nur, weil sie als Haarschnitt einen Bubikopf trug, sondern vor allem, weil sie mit originell komponierten Modeaufnahmen wie „Frau mit Hut“ (1930) sowie klassischen Porträtaufträgen die Familie ernährte. Ihr Mann, Bildhauer von Beruf, hütete derweil die vier Kinder. Kretschmer gehörte zu den ersten Fotografinnen in Deutschland, die ein eigenes Atelier hatten – und charakterstarke Bilder entstanden dort bis in die späten Siebzigerjahre hinein.
Na klar, Raffaels Sixtinische Madonna ist toll gemalt und in der Gemäldegalerie Alte Meister ein echtes Prunkstück. Aber der wahre Italiener der Dresdner Herzen muss trotzdem Bernardo Bellotto heißen! Schließlich wirkte der venezianische Vedutenmaler, der sich mit seinem noch etwas berühmteren Onkel den klingenden Künstlernamen Canaletto teilte, ab 1747 am Hof des sächsischen Kurfürsten. Dass wir fast fotografisch detailfeine Ansichten Dresdens im 18. Jahrhundert kennen – der Epoche, in der sich die Stadt vielleicht in ihrer schönsten Blüte befand –, verdanken wir seiner Pinselhand. Zum 300. Geburtstag wird Bellotto nun geehrt. Und wer die Elbe in der Vedute nicht wiedererkennt, hat recht: Dresden verwahrt auch einige italienische Stadtansichten Bellottos, darunter die des „Alten Ponte delle Navi in Verona“ von 1746/1747.
Dem weiblichen Körper gehörte sichtlich die volle Aufmerksamkeit von Aristide Maillol. Ja, es wimmelt in dieser Ausstellung dermaßen von Darstellungen oftmals unbekleideter Frauen, dass man wohl von einer Obsession sprechen muss. Die sitzende nackte „Méditerranée“ (1905) aus Marmor oder die kauernde hüllenlose Allegorie „La nuit“ (1909), hier als Gipsmodell, sind berühmte Beispiele, wie der Franzose Anfang des 20. Jahrhunderts zum Mitbegründer der modernen Bildhauerei wurde. Nicht die eindimensionale Themenwahl macht die Ausstellung interessant, sondern eher die Tatsache, dass Maillol in vielerlei Medien zu Werke ging: Es ist weniger bekannt, dass er am Anfang seiner Karriere auch in Öl malte oder hinreißende Textilarbeiten schuf, wie 1895 sein „Concert de femmes“.
Auf ausgefallenes Kunsthandwerk ist das Grassi Museum abonniert. Das zeigt auch diese Schau mit 300 Schmuckstücken aus der eigenen Sammlung, geschaffen ab 1945 von 180 Gestaltern. Die haben sich mit verrückten Ideen schier überboten: Eine Brosche in Form einer grünen Tomate gefällig? Die Künstlerin Bussi Buhs aus Hohenzell hat sich das knallgrüne Schmuckstück aus Kunststoff und Silber 2007 ausgedacht. Auch die Halskette „Blut, Schweiß und Tränen“ aus dem Jahr 1989, bei der Bernhard Schobinger aus Richterswil Sägeblätter mit Brillanten und Silber kombinierte, beweist, dass mutigen Goldschmieden kein Materialmix zu gewagt ist.
Eine Liebhaberin des Manierismus war die New Yorker Künstlerin Rosemary Mayer, die sich sogar die Mühe machte, das Tagebuch des Malers Pontormo zu übersetzen. Das überrascht etwas, denn mit altmeisterlicher Ölmalerei bringt man die federleichten Objekte Mayers nicht gleich in Verbindung. Eher schon offenbaren fragile Gebilde wie „Hypsipyle“ (1973) ihre Verwandtschaft zu den Werken Eva Hesses oder den „Veil“-Bildern von Morris Louis – zwei Zeitgenossen, die die 2014 verstorbene Künstlerin als Inspiration benannte. Vielleicht sollte man Mayers Textilarbeiten einfach als Faltenwürfe an der Wand begreifen, als hochspannende Malerei in der dritten Dimension. Viele Werke haben zudem Titel mit feministischen Anklängen: Hypsipyle war eine Königstochter, die ihren Vater rettete, als die Frau en von Lemnos ihre betrügerischen Männer ermordeten.
Von englischen Malern erwartet man ja immer eine gewisse Portion Exzentrik und Eigensinn. Aber dieser Himmel in leuchtendem Schweinchenrosa, den Walter Sickert 1894 in seinem Bild „L’Hôtel Royal, Dieppe“ über den Häusern malte, verblüfft dann doch. Einen solch bizarren Farbton hätte man nicht einmal Paul Gauguin zugetraut, und der lebte zu dieser Zeit im Südseerausch. Der 1860 geborene Sickert war an Degas’ Impressionismus geschult, doch haben seine eigenen Theater- und Zirkusbilder ein viel schmutzigeres Kolorit. Grund dürfte sein britischer Realismus gewesen sein, der sich früh in Richtung moderne Gesellschaftskritik bewegte.