In München zeigt eine dem Architekten, Bauingenieur und Künstler Santiago Calatrava gewidmete Schau, wie stark die Antike sein Schaffen beflügelt
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05.07.2022
Für alle, die in der Kunst Schönheit und Ästhetik suchen, ist diese Ausstellung ein Geschenk. „Jenseits von Hellas – Santiago Calatrava in der Glyptothek“, so der Titel, suggeriert die künstlerische Verbindung des weltberühmten Architekten, der sich jedoch als Bildhauer, Maler und Zeichner immer wieder intensiv mit der antiken griechischen Skulptur auseinandersetzt. Die Schau rankt sich gleichsam um die „Ägineten“, die grandiosen Giebelfiguren des Aphaia-Tempels auf Ägina. Sie sind das Herzstück der Glyptothek am Münchener Königplatz. 1816 bis 1830 von Leo von Klenze errichtet, hat Ludwig den singulären Bau bereits als Kronprinz und 1825 als König Ludwig I. von Bayern als „Ruhmeshalle der Skulptur“ geplant. Nach dem Willen des Monarchen sollte sie die Bildhauerkunst von den Anfängen bis in seine Gegenwart beherbergen. Im 20. Jahrhundert hat man die Glyptothek auf Großbildwerke der griechischen und römischen Antike konzentriert, aber in Sonderschauen wiederholt mit zeitgenössischen Werken konfrontiert.
Calatrava, 1951 in Valencia geboren, studierte Architektur und Bauingenieurswesen, das er an der ETH Zürich mit Promotion abgeschlossen hat. Dort eröffnete er 1981 sein erstes Büro und hat bis heute dort auch seinen Hauptsitz. Calatravas weltweit zu bestaunende Gebäude, Bahnhöfe und Brücken besitzen, obwohl Zweckbauten, höchste bildhauerische Qualität, denn er ist „ein Ingenieur und Architekt, der danach strebt als Bildhauer zu arbeiten“.
Bei einem München-Besuch 1992 hat er die „Ägineten“ in der Glyptothek erstmals gesehen. Es war „Liebe auf den ersten Blick“. Seine damals angefertigten Figuren-Zeichnungen und Aquarelle, die nun vorübergehend mit den antiken Skulpturen kommunizieren, betören durch ihre lebhafte Körperlichkeit bis heute. Seit 30 Jahren setzt sich Calatrava mit menschlichen Körpern in Bewegungsabläufen auseinander. In drei sogenannten Leporellos von sechs Metern Länge aus dem vergangenen Jahr hat er sie in zahllosen Einzelstudien thematisiert. Schwerkraft, Dynamik und Balance sind Parameter, die Santiago Calatrava faszinieren, die er in seinen unterschiedlichen Kunstwerken auslotet.
Die Vereinigung der grandiosen antiken Giebelfiguren der Dauerpräsentation, die das neue Menschenbild an der Wende der archaischen zur klassischen griechischen Kunst markieren, mit Calatravas davon inspirierter Serie 14 großformatiger Schmiedeeisen-„Aegineten“ veranschaulicht, wie stark die Antike diesen bedeutenden Gegenwartskünstler beflügelt. Denn das spannungsreiche Wechselspiel organischer Gliederung und Tektonik charakterisiert auch Calatravas in den letzten drei Jahren geschaffene „Aegineten“: Großformatige, abstrahierte, menschliche Figuren aus blank poliertem Schmiedeeisen, die auf hohen rechteckigen Sockeln aus alter Eiche agieren. Sie führen gleichsam Kraftakte mit den riesigen Rundschilden aus, die sie – analog zu den griechischen Marmor-Ägineten – in unterschiedlichen Posen halten. Damit stehen sie in direktem Bezug zu den troianischen Kriegern aus den Tempel-Giebeln. Hinzu kommen Calatravas kraftvoll-lebendige Aquarelle und Zeichnungen, die er 1992 großenteils vor den Ägineten aufs Papier gebannt hat. Mit großen „Steel Leaves“ (2010er Jahre), dekorativen, blätterzweigartigen Stahlskulpturen voll dynamischer Spannung, weißen Carrara-Marmor-„Cyclades“, die die Grundform des Kubus variieren, und pflanzenförmigen Eichenholz-„Totems“ ist dies die erste Ausstellung, die dem Bildhauer Calatrava gewidmet ist.
„Jenseits von Hellas – Santiago Calatrava in der Glyptothek“,
bis 23. Oktober,
Glyptothek, München,