Die Fotografien von Sibylle Bergemann fingen den Traum vom Außergewöhnlichen im Lebensalltag der DDR ein. Die Berlinische Galerie zeigt eine Retrospektive, die auch Reisebilder der Nach-Wende-Ära umfasst
ShareZwei dicke Taue umschlingen die bronzenen Hüften von Friedrich Engels. Mit einem weiteren wird der überlebensgroße Körper hoch in die Luft gezogen – und so schwebt er dahin, der Philosoph und Gründervater des Marxismus. Im Hintergrund ist deutlich der Berliner Alexanderplatz auszumachen. Engels Kopf steuert auf die Kugel des Fernsehturms zu, die Spitze der St. Marienkirche zeigt direkt auf sein Herz und unter den Füßen hantiert ein Bauarbeiter mit einer Schaufel.
Bei der Fotografie, die auf den ersten Blick wie ein Schnappschuss wirkt, ist nichts dem Zufall überlassen. Sie entstammt aus Sibylle Bergemanns Serie „Das Denkmal“ und ist 1986, dem letzten Jahr der Aufbauarbeiten des Marx-Engels-Forums in Ost-Berlin, entstanden. Gemeinsam mit dem Filmemacher Jürgen Böttcher begleitete die Fotografin elf Jahre lang den Entstehungsprozess des mehrteiligen Denkmalensembles des Bildhauers Ludwig Engelhardt. Dabei schuf Bergemann aus einer Langzeitreportage für das DDR-Kulturministerium ein ganz eigenes künstlerisches Werk, dessen Fokus am Ende viel mehr Momentaufnahmen liegen sollte als auf dem fertigen Monument. Nur drei Jahre nachdem die Arbeit beendet worden war, fiel die Mauer. Die Grenzen wurden geöffnet, und die DDR löste sich auf. Bergemanns Aufnahme des „Schwebenden Engels“ liest sich aus heutiger Sicht wie eine Prophezeiung.
Sibylle Bergemann, Jahrgang 1941, war eine der bedeutendsten Fotografinnen der DDR. Über mehr als vier Jahrzehnte fotografierte die Berlinerin die Welt, die sie umgab. Dabei dokumentierte sie mit ihrem besonderen Blick den Wandel der geteilten Stadt sowie Entdeckungen, die sie in Moskau, Paris oder New York machte. Als Mitglied im VBK (Verband Bildender Künstler der DDR) erhielt sie Sondergenehmigungen für Reisen ins Ausland. Auch dort gelang es ihr immer wieder, genau im richtigen Moment den Auslöser zu drücken und aus Alltagssituationen träumerische Kunstwerke zu schaffen. Besonders bekannt sind heute ihre präzise inszenierten Modeaufnahmen, die in der Sibylle, der Zeitschrift für Mode und Kultur, oder der Wochenzeitung Sonntag veröffentlicht wurden.
Eine Auswahl von über 200 Fotografien, darunter Stadt-, Mode- und Porträtaufnahmen, sind nun Teil der retrospektiven Ausstellung „Sibylle Bergemann. Stadt Land Hund. Fotografien 1966–2010“, die am 23. Juni in der Berlinischen Galerie eröffnet hat. In sechs Kapiteln führt Kuratorin Katia Reich durch das immense Œuvre. Gemeinsam mit Bergemanns Tochter Frieda von Wildt und Enkelin Lily, die mit der der Galerie von Friedrich Loock den Nachlass verwalten, erzählt sie fast chronologisch und unter verschiedenen thematischen Schwerpunkten das Leben der Fotografin nach.
Ihr Handwerk lernte Sibylle Bergemann bei Arno Fischer an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Weißensee. Später wurden die beiden ein Paar. Die gemeinsamen Wohnungen, erst in der Hannoverschen Straße, später am Schiffbauerdamm, wurden schnell zu einem beliebten Treffpunkt der Kunst- und Kulturszene Ostdeutschlands. Der Freundeskreis – eine Gruppe von Gleichgesinnten – war nicht nur Refugium, sondern auch Quelle für neue Ideen und Visionen. Nach der Wende im Jahr 1990 gründet Bergemann gemeinsam mit Harald Hauswald, Ute Mahler, Werner Mahler, Jens Rötzsch, Thomas Sandberg und Harf Zimmermann „Ostkreuz – Agentur der Fotografen“. Ihre Verbundenheit zu befreundeten Fotografinnen und Fotografen beeinflusst ihr künstlerisches Schaffen bis an ihr Lebensende.
Ost-Berlin ist ein prominentes Motiv in Bergemanns künstlerischer Praxis. Dabei arbeitete sie besonders gerne mit Gegensätzen, wie eine Aufnahme des abgerissenen Amtsgerichts neben der modernen Glasfassade des „Haus des Lehrers“ zeigt. Auch starke Frauen tauchen immer wieder in ihrem einzigartigen Bilderkosmos auf. Schauspielerinnen, Künstlerinnen und Models nahm sie nicht etwa im Fotostudio, sondern in ihren Lebensräumen auf. Mit einem ruhigen, aber bestimmten Blick schauen Power-Frauen wie Katharina Thalbach, Meret Becker oder Nina Hagen in die Kamera.
Auch im letzten Raum der Ausstellung, in dem ihre jüngsten Arbeiten zu sehen sind, ist die Bildsprache Bergemanns eindeutig zu erkennen. Während in den vorherigen Stationen ausschließlich Schwarzweißaufnahmen gezeigt wurden, sind hier nun auch Farbfotografien zu sehen, die eine warme Atmosphäre ausstrahlen. Das Fernweh, das das Fotografenpaar Fischer und Bergemann schon zu DDR-Zeiten immer wieder dazu veranlasste, seine Koffer zu packen, trieb sie nach der Wiedervereinigung nur noch mehr dazu an, ferne Reiseziele zu verfolgen. Bis kurz vor ihrem Tod im Jahr 2010 erhält die talentierte Beobachterin Aufträge von großen Zeitschriften wie Geo, für die sie nach Ghana, Mali und in den Senegal reist. Immer wieder tauchen Hunde auf ihren Fotos auf, ein besonders beliebtes Motiv der Fotografin, das sich durch ihr gesamtes Schaffen zieht – die Vierbeiner sind von Berlin über Paris und Venedig bis nach Tokio zu sehen.
„Sibylle Bergemann. Stadt Land Hund. Fotografien 1966–2010“
Berlinische Galerie
bis 10. Oktober 2022