Die Skulpturen und Büsten der Torlonia-Sammlung erzählen in Mailand, wie im 18. und 19. Jahrhundert mit Antiken Politik gemacht wurde
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29.07.2022
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WELTKUNST Nr. 200
Pragmatische Antikenverehrung: Seit dem Mittelalter wurden antike Spolien in Rom wiederverwertet. Papst Sixtus IV. führte diese Tradition mit einem politisch klugen Schritt weiter, als er im Jahr 1471 der Bürgerschaft die Lateranbronzen schenkte. Sie fanden auf dem Kapitolinischen Hügel Aufstellung und wurden per Inschrift dem Volk von Rom dediziert, aus dessen Mitte sie in der Antike gekommen waren. Damit erkannte der Papst die zeitgenössischen Bürgerinnen und Bürger als Nachkommenschaft des antiken Weltreichs an und legitimierte gleichzeitig das Sammeln antiker Artefakte als Instrument der kulturellen Aneignung.
Ein knappes halbes Jahrtausend später – so bemisst sich Zeit in der Ewigen Stadt – bildete sich im Umfeld damaliger Entwicklungen eine Facette dieser Kulturtechnik heraus. Schon immer haben politische Umbruchsituationen Sammeltätigkeit ausgelöst oder verstärkt, zu gut funktionieren Kunstwerke als unverdächtige Instrumente der Legitimierung: Das alte Geld möchte diskret auf seine Anciennität hinweisen, das neue just den Eindruck der späten Ankunft überspielen. Auch im frisch geeinten Italien des 19. Jahrhunderts besann man sich auf das letzte nationale Imperium. So wurde das Aufgehen des päpstlichen Staates in einer geeinten, säkularen Nation von einem Boom des Antikensammelns begleitet.
Die Sammeltätigkeit des Adelsgeschlechts Torlonia ist hierfür beispielhaft, handelt es sich doch um das jüngste Fürstenhaus des Staates. Im 18. Jahrhundert eingewandert, ergänzten die Torlonia ihren Textilhandel um Bankgeschäfte, vulgo Geldverleih. So wurde Giovanni Torlonia zu einem der größten Grundbesitzer des Kirchenstaats und 1814 in den Fürstenstand erhoben. Er war 1754 noch unter dem Namen Tourlonias im französischen Augerolles als Sohn eines Landwirts geboren worden. Seine Frau, die erste Fürstin, war eine Stoffhändlerwitwe aus Donaueschingen. Der rapide wachsende Wohlstand ermöglichte der Familie einen luxuriösen Lebensstil, und eine ausgeprägte Kunstsammeltätigkeit begleitete den ökonomischen und politischen Aufstieg.
Wie Großsammler aller Epochen, von August dem Starken bis Reinhold Würth, kauften die Torlonia bevorzugt in Konvoluten. So steht die Übernahme der Antiken aus dem Nachlass des Bildhauers Bartolomeo Cavaceppi (1717–1799) durch Giovanni Torlonia im Jahr 1800 am Anfang einer Familientradition, die 1876 mit der Eröffnung des Museo Torlonia durch seinen Sohn Alessandro einen glanzvollen Abschluss fand. Der Museumsgründer machte die mittlerweile 620 Originale öffentlich zugänglich und publizierte zur Museumseröffnung den ersten Sammlungskatalog, dessen zweite Auflage 1883 bereits Abbildungen in Fotolithografietechnik aufwies.
Die Gruppe blieb ein Jahrhundert lang im Palazzo Torlonia an der Via della Lungara installiert, bis ein weiterer Alessandro sie im Jahr 1976 einlagerte, um den Palazzo in Wohnungen zu unterteilen. Der seinem Tode folgende Erbstreit führte zu Restaurierung und Ausstellung der Sammlung. Als erster Schritt wurden 62 Büsten und Skulpturen aus Marmor restauriert, gefördert vom Luxusjuwelier Bulgari, dort kennt man sich mit großen Steinen aus. Nach dem Auftakt in Rom wird nun in Mailand ein erweiterter Ausschnitt der Sammlung gezeigt.
Die von der Architektin Lucia Anna Iovieno gestaltete Präsentation zeigt die berühmten Marmorbüsten in der zentralen Halle der Gallerie d’Italia, wo sie wie ein dreidimensionaler Stammbaum der Herrscherfamilien wirken. Kaiser Hadrian, Erbauer des Parthenon und erster Bartträger, stützt sein Haupt auf ebenfalls antike Schultern, eine Ausnahme in dieser Sammlung. Dass die Mehrheit der Bildwerke hier Kombinationen aus antiken Köpfen und neuzeitlichen Büsten sind, ergibt – neben der starken Oberflächenreinigung des 19. Jahrhunderts – einen einheitlichen Gesamteindruck. Einige Büsten stehen formal im Gegensatz zu dieser Idealisierung, zumindest Männer werden teilweise schonungslos alt dargestellt. Ein Eutidemo-Bildnis aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. oder ein „Alter aus Otricoli“ aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. zeigen aufgedunsene und faltige Gesichter mit unverstellter Direktheit. Dass Eutodemos’ Hut an frühe Stahlhelme erinnert, macht deutlich, wie zeitlos das realistische Menschenabbild ist – ein Aspekt der dauerhaften Anziehungskraft derartiger Werke. Hinter dem Porträtierten wird ein mazedonischer Herrscher vermutet. Fröhlicher ist die Gruppierung ganzfiguriger Athleten aus dem 1. und 2. nachchristlichen Jahrhundert. Restaurierungen der frühen Neuzeit, die eine Unversehrtheit des Erscheinungsbildes zum Ziel hatten, täuschen nicht über die Rarität dieser großen, detailliert ausgearbeiteten Körper hinweg.
Während vor allem diese Räume durch beinahe minimalistische Serialität bestechen, erfreuen herausragende Einzelstücke wie der legendäre Ziegenbock, den Giovanni Torlonia im Jahr 1816 von den Nachfahren des Renaissancesammlers Vincenzo Giustiniani erworben hatte. Während der Körper aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. stammt, wurde die Figur um 1620 restauriert und der verlorene Kopf ergänzt – nach heutigem Wissensstand von Gian Lorenzo Bernini. Hier bedeutet die barocke Ergänzung eine Interpretation der antiken Statue, der zeitgenössische Kunstschaffende wohl einen eigenständigen Werkcharakter zubilligen würden.
An der Grenze zur angewandten Kunst stehen skulptural gestaltete Objekte wie Sarkophage oder Gefäße. Den prächtigsten dieser Sarkophage (Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr.) zieren handlungsstarke Reliefs von geradezu atemberaubender Dreidimensionalität, in dieser Qualität der Ausarbeitung sogar in Rom eine Seltenheit. Das Frontrelief zeigt den Auftraggeber als belesenen Mann im Kreise weiterer Gelehrter und der neun Musen, seine Ehefrau mit noch unausgeführten Gesichtszügen. Der Deckel weist figurative Eckmasken auf, die sich 1800 Jahre später auf biedermeierlichen Kastenmöbeln wiederfinden. So wie auch die Tazza Albani, eine gigantische Henkelschale auf Fuß, die direkt dem Musterbuch Karl Friedrich Schinkels entstammen könnte.
Die Gruppierung der Objekte erzählt die Geschichte der Sammlung in fünf Kapiteln. Es beginnt mit dem Museo Torlonia, danach zeigt der zweite Abschnitt, wie die Familie auf ihrem eigenen Grund und Boden erfolgreich nach Antiken graben ließ. Der dritte Teil widmet sich der Villa Albani Torlonia und den Ankäufen der Sammlungen Cavaceppi und Albani, der vierte Teil der ebenfalls als Konvolut übernommenen Giustiniani-Gruppe. Den Abschluss bildet eine Darstellung von Restaurierungsmethoden und ihrer Genese, gezeigt anhand zweier Großskulpturen von Herkules und Leda mit dem Schwan. Beide Bildnisse sind Pasticci der Neuzeit; sie zeigen unterschiedliche Stadien der Restaurierung auf, sodass ihre Konstruktion erlebbar ist. Die des Herkules weist 112 Einzelteile auf. Zum Verständnis des zuvor Gesehenen ist das ein Schlüsselmoment, denn in statischer Museumsaufstellung findet man derartige Konstruktionselemente und Zustände so gut wie nie dokumentiert. Und so ist diese Sammlung mehr als eine Gruppe herausragender Antiken, erzählt ihre Genese doch auch die Geschichte von Antikenrezeption und Sammeln im 18. und 19. Jahrhundert – von Präsentation, Rekonstruktion und Restaurierung.
„The Torlonia Marbles. Collection Masterpieces“,
Gallerie d’Italia, Mailand,
bis 18. September