Memento mori: Der chinesische Künstler installiert in der Kirche von San Giorgio Maggiore in Venedig eine monumentale Skulptur aus schwarzem Muranoglas
ShareDrei Jahre dauerte es, bis die rund zweitausend Einzelteile des riesigen Murano-Glasleuchters von Ai Weiwei fertiggestellt waren, die die „Commedia umana“, die menschliche Komödie, in der kritisch-ironischen Façon des chinesischen Künstlers erzählen. Tag für Tag wurden die unzähligen Schädel, Gedärme, Twitter-Vögel, Überwachungskameras und ausgestreckte Mittelfinger im Berengo Studio in der Nordlagune von Venedig gefertigt. Den Zusatz „Memento mori“ im Ausstellungstitel, Bedenke, dass Du sterben wirst, hatte man dort stets vor Augen, und auf die Frage, was das nächste gemeinsam Projekt von Ai Weiwei und Adriano Berengo sei, antwortet eine Mitarbeiterin lachend: „Zunächst ist dieses große Projekt endlich abgeschlossen!“.
Während die Glasmanufaktur einige Miniaturausgaben auf den Markt bringt, wird der sechs Meter breite und neun Meter hohe Riesenleuchter – nach der Premiere in den römischen Diokletiansthermen im Frühjahr – nun bis Ende November in der Palladio-Basilika auf der Insel San Giorgio Maggiore präsentiert. Beim Betreten des hallenartigen Kirchenschiffs eröffnet sich den Besuchern eine faszinierende Erscheinung, denn die filigrane Installation scheint unter der Kuppel zu schweben. Das Werk aus schwarzem mattem Glas ist so geschickt aufgebaut, dass es vielerlei Blickachsen auf die dahinter liegende Monumentalarchitektur, den üppigen Hauptaltar und die seitlich liegenden Tintoretto-Gemälde erlaubt. Anders als vor dem schlichten Backstein in Rom zeigt sich hier das ganze Können der venezianischen Glaskünstler, die seit Jahrhunderten darin geübt sind, den Blick auf reich dekorierte Palastwände und atemberaubende Deckenfresken nicht zu verstellen.
Es wäre reizvoll gewesen, diesen Leuchter in einem Palast zu sehen, wie es zunächst im Museo del Settecento Ca‘ Rezzonico am Canal Grande vorgesehen war. Denn in der Benediktinerkirche verschiebt sich der Fokus von der weltlichen in die christliche Sphäre, und die spindeldürren Skelettfragmente, die in den Kirchenraum hineinragen, bilden vor den Augen der Betrachter unweigerlich einen grotesken Totentanz. Anschaulich wird dies besonders, wenn man vom Altarraum durch den Leuchter auf die lebensechte Renaissancebüste des Dogen Leonardo Donà schaut, die auf seinem Grabmal thront.
Es braucht eine Weile, bis man sich in der ikonografischen Fülle der Elemente, die in den Leuchter eingearbeitet wurden, zurechtfindet. Aber schließlich finden alle Teile – wie der ikonisch gewordene ausgestreckte Mittelfinger – zu einem stimmigen Ganzen zusammen und bieten einen faszinierenden Einblick in die Absurditäten unserer Zeit. In diesem Zusammenhang wundert es nicht, dass das hölzerne Gerüst, das die vier Tonnen schwere Installation trägt, an einen überdimensionalen Galgen denken lässt.
Die im Kirchenraum und in den angrenzenden Klostersälen folgende Ausstellung bietet eine interessante Übersicht über das letzte Jahrzehnt des künstlerischen Schaffens von Ai Weiwei, der hier unter anderem seine Lego-Reliefs mit chinesischen Tierkreiszeichen, großformatige Baum-Kompilationen und archäologische Fundstücke präsentiert. Im venezianischen Zusammenhang sticht eine neuere Glasarbeit hervor: die kristallene Büste „Artist as Invidia“ von 2022 ist ein allegorisches Selbstporträt des Künstlers, das an das marmorne Dogenporträt in der Basilika erinnert. Doch anders als der Patrizier wählt Ai Weiwei keine porträtähnliche Wiedergabe, sondern eine ironische Version des Lasters Neid. So trägt er das Teufelssymbol der Schlange auf dem Kopf und um den Hals, und statt einer stolz geschwellten Brust sieht man zwei schlappe, faltenreiche Brüste herunterhängen. Vollkommen zeitgemäß wird diese Kompilation von mittelalterlichen Symbolen durch den kessen Kussmund, den der Künstler formt, als posiere er für Social Media. Was auf den ersten Blick als bitterböser Kommentar auf die künstlerische Selbstdarstellung gelesen werden kann, bietet auf den zweiten Blick einen hochinteressanten künstlerischen Wettstreit mit dem deutschen Bildhauer Thomas Schütte, dessen berühmte Berengo-Heads – die auf Murano in der gleichnamigen Manufaktur geschaffenen großformatige Glasköpfe – zuletzt in der Bourse du Commerce in Paris gezeigt wurden.