Brandon Lipchiks retro-digitale Gemälde besitzen eine unheimliche Sogwirkung. Jetzt bietet sich im Kunstpalais Erlangen die Gelegenheit, in diese nachtaktive Parallelwelt einzutauchen
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08.08.2022
Wenn wir etwas nicht ganz greifen oder beschreiben können, dann neigen wir dazu, es durch gewisse Labels oder Kategorien einzuordnen. So kommt es zu Begriffen wie „Post-Digital Pop“, obwohl das digitale Zeitalter noch mitten im Gange ist oder „Post-Internet Art“, obwohl die Kunst mit dem Internet so gar nichts zu tun hat. Auch der 1993 in Erie, Pennsylvania geborene Maler Brandon Lipchik wurde schon jenen Pseudo-Strömungen zugerechnet. Dass seine Malerei viel eher in der Tradition von Henri Rousseau oder David Hockney verstanden werden muss, das zeigt die soeben im Kunstpalais Erlangen eröffnete Einzelausstellung „Brandon Lipchik. Moonbeams of Allegory“.
Zwar entstehen einzelne Elemente seiner Leinwandarbeiten als 3-D-Renderings am Computer, doch die Software ist für Lipchik nur eines von vielen Werkzeugen, derer er sich bedient, um seine Bildideen zu verwirklichen. Lipchiks Leinwände sind allesamt Collagen, die sich aus Schablonen, Airbrush-Flächen, gestischer Malerei und pastos aufgetragener Modelliermasse zusammensetzen. Mit dem Internet haben diese Arbeiten viel weniger zu tun als mit Mythen, Erzählungen und ihrer Ikonografie. Hier taucht ein muskulöser, von Pfeilen beschossener und rot angestrahlter Heiliger Sebastian auf, um den herum zwei junge Männer in Tennissocken tanzen, dort die römische Kriegsgöttin Bellona, die 1894 von Henri Rousseau porträtiert wurde. Rosseau ist überhaupt sehr präsent in Lipchiks Bilderfindungen, die sich häufig auf Lichtungen im nächtlichen Wald abspielen – die Überlagerung dunkelgrüner oder tief brauner Vegetation oder der Blutmond erinnern an den französischen Wegbereiter des Surrealismus.
Lipchik transportiert diese Motive ins 21. Jahrhundert und bezeichnet den Vorgang selbst als das Verfassen von Liebesbriefen. Die Sprache seiner Liebesbriefe ist bei aller Kenntnis der aufgegriffenen Referenzen und angeeigneten Bildmotive höchst eigenständig. Es geht nicht um ein akademisches Kopieren oder ein Pastiche, sondern viel eher um einen Transfer kunsthistorischer Schätze in die Gegenwart. So ergibt sich eine merkwürdig-wundervolle Mischung aus der Rekonstruktion von Kunstgeschichte und ihrer unmittelbaren Dekonstruktion in der Gegenwart. Einer Gegenwart, die von einer Gleichzeitigkeit der Perspektiven und Lichtquellen bestimmt ist: Kunstlicht und natürliches Licht finden bei Lipchik stets synchron statt, untersichtige und aufsichtige Perspektiven schließen einander nicht aus, auch zeitlich disparate Ereignisse erscheinen simultan und kreieren eine neue, ganz eigene Form des Kubismus.
Wie Lipchick Raum und Perspektiven denkt und im Computer plant, das verraten den Besuchenden zwei VR-Anwendungen, die neben den mehr als 30 Leinwandarbeiten, die er im vergangenen Jahr in seinem Berliner Atelier geschaffen hat, ausgestellt werden. Sie sind als digitale Bühnenbilder begreifbar, in denen die Betrachtenden vollständig von Lipchiks Malerei umschlossen werden und sich auf einer Bühne wiederfinden, zu der kein Publikum Zutritt hat. Ganz ähnlich dem größten Gemälde der Ausstellung. Die Kuratorin Tamara Reitz hat dafür direkt den ersten Raum vorgesehen. Es zeigt eine leere Waldlichtung, die gleichermaßen von einem violett schimmernden und sich in einem Tümpel spiegelnden Mond und drei gelblich leuchtenden Spotlights erhellt wird – eine Bühne ohne Darsteller und Lipchiks erstes Landschaftsgemälde überhaupt.
In welche wundersamen Landschaften und auf welche der vielen von ihm abgebildeten Monde und Planeten uns Lipchik noch entführen wird, das bleibt abzuwarten. Der einen Liebesbrief schreibende junge Mann unter Rousseaus rotem Mond weiß es vielleicht bereits.
„Brandon Lipchik. Moonbeams of Allegory“
Kunstpalais, Erlangen
bis 23. Oktober 2022