Jean Painlevé lehrte sein Publikum das Staunen über eine wundersame Unterwasserwelt. Erstmals seit seinem Tod 1989 wird dem großen Poeten des Dokumentarfilms nun in Paris eine umfangreiche Einzelausstellung gewidmet
ShareDas Werk Jean Painlevé aufzufächern, bleibt eine Herausforderung: Mit über 200 Filmen, unzähligen Fotografien, journalistischen und filmtheoretischen Arbeiten erweist es sich als ebenso umfangreich wie vielfältig. Die Schau in der Pariser Kunsthalle Jeu de Paume komplettiert Painlevés eigenes Schaffen mit zahlreichen Zeitzeugnissen, die zumindest eine Ahnung geben von dem bewegten Leben dieses Dokumentarfilmpioniers. Geboren 1902 in Paris als Sohn des Mathematikers und späteren Premierministers Paul Painlevé, war Jean ein ständig abwesender Schüler, der seinen Wissensdurst lieber selbstbestimmt in zoologischen Gärten stillte und mit 17 Jahren als Zaungast den Surrealismus kennenlernte, bevor er schließlich kurzzeitig Medizin und Biologie studierte.
Sein erster Film wird 1928 gezeigt: ein vorwiegend unter dem Mikroskop aufgenommenes Drama über das Ei des Stichlings. Bereits hier findet Painlevé zu einer poetischen Bildsprache, die eine eigenwillige Ästhetik in den Dokumentarfilm bringt. Painlevé wechselt bei seinen Betrachtungen der wunderlichen Unterwasserwelt vom Originalmaßstab zur mikroskopischen Nahsicht. Mit einem ähnlichen Erkenntnisinteresse, mittels dem sich die Surrealisten dem Unbewussten nähern, untersucht Painlevé in vielen seiner Filme die Fauna der Meere. Sein Blick ist durchaus subversiv. So beunruhigt der wohl bekannteste Film „L´Hippocampe“ (1934) über die Fortpflanzung von Seepferdchen sogar die Zensurbehörde in den USA – die wittert eine Gefährdung des patriarchalischen Familienmodells und der traditionellen Mutterrolle. Seepferdchen sind die einzigen Wirbeltiere, bei denen Männchen die Brut austragen. Der spektakuläre Kurzfilm über diesen kleinen Knochenfisch mit dem pferdeähnlichen Kopf und der aufgerichteten Haltung zeigt dies genüsslich und löst in den dreißiger Jahren einen regelrechten Hippocampus-Hype aus, sodass Jean Painlevé und seine Lebenspartnerin Ginette Hamon als Zubrot eine eigene Schmuckserie entwickeln, die man heute in der Ausstellung sehen kann.
Der umfangreiche biografische Teil der Schau, in dem Zeitungsausschnitte, Fotografien, Manuskripte und Notizen präsentiert werden, ergänzt das filmische und fotografische Werk auf eindrucksvolle Weise. Hier wird die Vernetzung Painlevés innerhalb der Avantgarden der Zwischenkriegszeit und sein Einfluss auf die Entwicklung des Dokumentarfilms deutlich. Neben Artikeln und Fotos in surrealistischen Zeitschriften findet man einen persönlichen Brief Luis Buñuels, in dem der spanische Regisseur als glühender Fan nach neuen Filmen des Kollegen verlangt. Es gibt ein Foto von Painlevé an der Seite Sergej Eisensteins beim Besuch einer Kirmes, ein anderes zeigt ihn beim Fischen mit seinem Freund Alexander Calder. Und überhaupt sind immer wieder Bilder von Painlevé mit den Füßen im Wasser zu sehen: Les pieds dans l‘eau.
Der französische Titel der Ausstellung bedient sich des Namens eines gleichlautenden Aufsatzes von Painlevé, in dem der Filmemacher die Herausforderungen seiner Arbeit beschreibt: Das minutiöse Beobachten der kleinsten Meeresbewohner, die er in seinen Filmen respekt- und liebevoll inszeniert. Durch den Einsatz dramatischer Musik wirken die natürlichen Bewegungen der Tiere wie in einer kuriosen Choreografie rhythmisiert.
Painlevé sah sich selbst allerdings nie als Künstler, sondern als Wissenschaftler, der die Fotografie und vor allem den Film als Erkenntniswerkzeuge nutzte. Mit seiner Arbeit verfolgte er immer auch einen aufklärerischen, wenn nicht sogar erzieherischen Ansatz. Vielleicht der Einfluss einer frühen politischen Sozialisation in den anarchistischen Kreisen der französischen Hauptstadt. Nicht nur war er mit der Tochter militanter Anarchisten liiert, sondern er traf auch auf einen anderen jungen Filmemacher, Jean Vigo, dessen revolutionärer Vater im Gefängnis umgekommen war. Dem ebenfalls früh verstorbenen Jean Vigo ist das vielleicht schönste Dokument dieser Ausstellung zu verdanken: Sein Brief an Painlevé endet mit den freundschaftlichen Worten „Vous êtes mieux qu´un chic type“.
Es lohnt sehr, sich mit dem Werk dieses poetischen Wissenschaftlers auseinanderzusetzen, der „mehr war als nur ein feiner Kerl“. Wer es nicht nach Paris schafft, kann die Ausstellung auf ihrer zweiten Etappe ab Oktober in Winterthur besuchen.
„Jean Painlevé – Les pieds dans l’eau“,
Jeu de Paume, Paris,
bis 18. September 2022
Fotomuseum Winterthur,
29.Oktober 2022 – 12. Februar 2023