Albert Renger-Patzsch

Die Krabbenfischerin

Im Jahr 1927 reiste der Fotograf Albert Renger-Patzsch auf die norddeutschen Halligen. Die Pinakothek der Moderne in München zeigt die außergewöhnliche Bilderserie, die dort entstand

Von Catherine Peter
19.09.2022

Wenn heute von den Halligen die Rede ist, heißt es meistens: „Land unter“. Zu sehen sind dann eindrucksvolle und auch bedrohliche Bilder, auf denen von den zehn Inseln im nordfriesischen Wattenmeer nur noch einzelne Häuser aus dem Wasser ragen. Die Inseln sind sogenanntes Schwemm- oder Marschland, sie liegen nur wenige Meter über dem Meeresspiegel und werden mehrmals im Jahr überflutet. Auf den Aufnahmen der Halligen des deutschen Fotografen Albert Renger-Patzsch, eine der bedeutendsten Figuren der Fotografie der 1920er- und 1930er-Jahre, herrscht kein Land unter. Aber die einzigartige Insellandschaft, die gewiss eines Tages verschwinden wird, und die ungewöhnlichen Lebensbedingungen der Bewohner waren Anlass, Renger-Patzsch mit einer Fotostrecke zu beauftragen. Im Jahr 1927 erschien sein Fotobuch „Die Halligen“ im Berliner Albertus Verlag, als erster und letzter Band einer vorgesehenen Reihe mit dem Titel „Gesicht der Landschaft“.

Albert Renger Patzsch Krabbenfischerin Langeneß
Fast verschwindet die Krabbenfischerin hinter ihrem Netz, aufgenommen 1927. © Ann und Jürgen Wilde, Zülpich; VG Bild-Kunst Bonn, 2022

Das Blättern durch den Bildband ist wie ein langer Spaziergang auf den Inseln. Renger-Patzsch dokumentiert Flora, Fauna, Mensch und Architektur. Stege, Boote, Lämmer, Kühe, Grabplatten, Hallighäuser, Halligdächer und Halligsilber, das allgegenwärtige Meer bei Sonnenauf- und untergang. Wie lange er sich für die Aufnahmen auf den Inseln aufhielt, und wie genau seine Zeit auf den Halligen verlief, ist unbekannt. Renger-Patzsch führte kein Tagebuch. Aber ein Eintrag in einem Gästebuch verrät, dass es ihm auf den Halligen außerordentlich gut gefallen hat. Er schreibt: „Die Grösse und Weite der Landschaft, die stolze Aufrichtigkeit ihrer Menschen die herzlichste Gastfreundschaft haben meinen Aufenthalt auf Langeneß zu einem meiner kostbarsten Erlebnisse gemacht“. 

Albert Renger Patzsch Langeneß Gästebuch
Blick ins Gästebuch von Langeneß mit einem Eintrag von Albert Renger-Patzsch. © Boy-Peter Andresen

Bestimmt, man kann nur versuchen es sich vorzustellen, war der Besuch des Fotografen auch für die Bewohner ein Ereignis. Einige von ihnen ließen sich von ihm porträtieren und bei der Arbeit fotografieren. Verschiedene Ansichten zeigen Frauen und Männer beim Schafmelken, beim Mähen, beim Heutransport, beim Bau eines Daches, beim Verfrachten eines Bootes. Eine Reihe von sechs Bildern widmet sich zwei Krabbenfischerin bei der Arbeit. Wie sie mit einem speziellen Fangnetz, dem Gliep, über der Schulter und Korb am Arm bei Ebbe durchs Wasser waten, wie sie mit dem Netz den Grund absuchen, wie sie ihre Netze leeren. Fünf der Aufnahmen dokumentieren die schwere Arbeit, ein Bild ragt heraus. Die erste Aufnahme der Serie zeigt nur eine der beiden Krabbenfischerin. Wahrscheinlich bat sie Renger-Patzsch, für die Aufnahme kurz stehen zu bleiben, und kadrierte sie so, dass ihr halber Körper hinter dem schrägen Netz verschwindet und dass das Netz den größten Teil des Bildes einnimmt. Man weiß gar nicht mehr, was man als Erstes wahrnimmt, die Frau hinter dem Fischernetz oder das Fischernetz vor der Frau? Mit dieser Komposition schafft Renger-Patzsch in situ etwas, was dem sogenannten Neuen Sehen zugeordnet werden kann. Eine fotografische Bewegung im Umfeld der Neuen Sachlichkeit, die durch den Einsatz fotografischer Mittel, wie ungewöhnlicher Perspektiven, einen neuen Blick auf die Welt schaffen.

Der Originalabzug der Krabbenfischerin ist noch bis zum 24. September im Rahmen der Ausstellung „Albert Renger-Patzsch. Frühe Bücher“, kuratiert von Simone Förster, in der Pinakothek der Moderne in München zu sehen. Die Ausstellung wurde aus den Beständen der Stiftung Ann und Jürgen Wilde und ihres Albert Renger-Patzsch Archivs entwickelt. Neben den Halligen werden drei weitere Publikationen des Fotografen vorgestellt, die alle aus der Zeit vor der Veröffentlichung seines wegweisenden Buches „Die Welt ist schön“ stammen.

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