Die 11. Berlin Art Week glänzt vom 14. bis 18. September mit aktueller Kunst. Diese lässt sich in Off-Spaces ebenso bestaunen wie in Institutionen oder bei privaten Sammlern − und auf der Messe Positions kaufen
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10.09.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 203
Die Frage, wie oft es Lu Yang eigentlich gibt, kann einen schon beschäftigen. Schließlich bevölkert diese androgyne Gestalt mit immer denselben Gesichtszügen nahezu jede ihrer eigenen künstlerischen Arbeiten und fordert die Umgebung mit diesen genderneutralen Avataren heraus. Lu Yang kam in Schanghai als Frau auf die Welt, zieht jedoch die männliche Anrede vor und bezeichnet sich als nichtbinär. Allein die Identitätsfrage wirbelt jedes Schwarz-Weiß-Denken durcheinander. Die Kunst erledigt den Rest. Wer sich sonst weder in der Welt der Computerspiele noch in der Sphäre von 3-D-Animationsfilmen bewegt, wird von einem visuellen Feuerwerk überwältigt: mit Superhelden, Monstern, fremden Göttern und Botschaften, die jüngste Erkenntnisse der Neurowissenschaft mit uralten buddhistischen Weisheiten verbinden.
Lu Yangs Ausstellungen sind vollkommen immersiv, entziehen kann man sich ihrer Wirkung nicht. Das macht den Multimediastar bei Kuratoren begehrt. Auch die Deutsche Bank hat ein Auge auf ihn geworfen und zum „Künstler des Jahres“ 2022 erklärt. Lu Yang zeigt im Berliner Palais Populaire alte wie neue Produktionen der Serie „Doku − The Experience Center“. Ein Coup, der das Publikum der diesjährigen Berlin Art Week ins Universum des Digitalen lädt.
Dabei ist schon der Auftritt von Mona Hatoum in gleich drei Institutionen eine kleine Sensation. Im monumentalen Kesselhaus des KINDL − Zentrum für zeitgenössische Kunst, einer einstigen Brauerei, installiert sie eine Arbeit, die von brachialen Umwälzungen für die Gesellschaft und deren fragiler Balance erzählt. Solche Kommentare sind charakteristisch für das Werk der palästinensisch-britischen Künstlerin. Zudem stellt sie im Neuen Berliner Kunstverein aus, während das Georg Kolbe Museum auf drei Schaffensjahrzehnte zurückblickt, in denen Hatoum interaktive Performances gefilmt, fotografiert oder Skulpturen konstruiert hat, die buchstäblich unter Strom stehen.
Immer geht es um die sinnliche Wahrnehmung von Grenzen und Gefahren − um intensive, körperhafte Erlebnisse. Die Arbeiten markieren damit einen Gegenpol zu Lu Yangs Überwältigungsszenarien, die sich vornehmlich über das Auge in den Kopf bohren. Vielleicht ist der unterschiedliche Ansatz auch eine Frage der Generationszugehörigkeit: Hatoum wurde 1952 geboren, der Künstler aus Schanghai drei Jahrzehnte später.
Von solchen Spannungsfeldern lebt die aktuelle Berlin Art Week, die am 14. September beginnt; spätsommerlich und coronakonform im BAW Garten, dem neuen Zentrum mit täglichem Programm. Es befindet sich auf dem Gelände der Uferhallen in Wedding und rückt damit wohl nicht unabsichtlich ein Beispiel für aktuelle Gentrifizierung in den Blick: Seit Jahren wehren sich namhafte Künstlerinnen und Künstler gegen die Verdrängung aus ihren Ateliers, die ihnen langfristig versprochen wurden. Dass sich heute keiner der Investoren mehr daran erinnern will, macht es wichtig, solche Adressen in ein Festival mit Strahlkraft zuintegrieren. Berlin wäre ohne diese Maschinenräume aktueller Kunstproduktion, so die Botschaft, eine leblose Hülle.
Ein Atelier in der Stadt hatte auch cameron clayborn bezogen. Temporär, um neue Skulpturen für die Ausstellung im Hamburger Bahnhof zu bauen. „Nothing left to be“ eröffnet am 15. September und zeigt, welche ästhetischen Qualitäten in Materialien wie Gipsdeckenfarbe, Dämmstoffen und recycelter Kleidung stecken. clayborn ist noch einmal sieben Jahre jünger als Lu Yang, fühlt sich aber eindeutig der haptischen Praxis verpflichtet: Die Skulpturen mit ihren stofflichen Oberflächen erinnern an Kokons, signalisieren Schutz und Abgeschlossenheit, Nähe und Zerbrechlichkeit. Am liebsten würde man sie mit den Händen erkunden. clayborn hat den Baloise-Preise gewonnen, der alljährlich auf der Messe Art Basel verliehen wird. Die Schau im Hamburger Bahnhof gehört dazu und ist mit der Schenkung der Arbeiten „homegrown #1“ und „homegrown #2“ verbunden.