Am Sonntag ging nach 100 Tagen die Documenta 15 zu Ende. Es sollte die erste durch und durch postkoloniale Großausstellung werden. Das war sie auch, aber leider um den Preis eines Antisemitismus-Skandals, der alle guten Ansätze überschattete
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26.09.2022
Es hatte alles so gut angefangen. Während der Eröffnungstage der Documenta 15 herrschte allgemein eine heitere Stimmung, und die meisten Besucher ließen sich bereitwillig und auch freudig darauf ein, was das indonesische Kuratorenkollektiv Ruangrupa auf die Beine gestellt hatte. Der Kunstbetrieb und der Markt mit ihren Machtverhältnissen spielten keine Rolle. Stattdessen wurde durch die Einladung von Künstler- und Aktivistengruppen aus aller Welt, aber vor allem aus Ländern, die auf der Documenta noch nie präsent waren, eine gemeinschaftliche Atmosphäre beschworen und auch in den Werken und Aktionen demonstriert. Die rund 1500 beteiligten Künstlerinnen und Künstler führten vielfältige, oft überraschende und auch mitreißende Ansätze vor, wie wir auf die Krisen unserer Welt reagieren können.
Selten ging es um Ästhetik, dafür fast immer um politische, wirtschaftliche oder ökologische Ansätze. Vieles davon war überraschend und innovativ, sodass sich der Optimismus, der hier herrschte, auf die Besucher übertrug. Die Perspektive hatte sich umgedreht: Der sogenannte Globale Süden blickte auf die Welt und übernahm die Aktivität. Europäer und Nordamerikaner waren Zaungäste des Geschehens – wenn sie sich nicht wie eine ganze Reihe von lokalen Kasseler Initiativen in die Arbeit der Kollektive integrierten.
Es hätte eine großartige, vielleicht sogar legendäre Documenta werden können. Aber sie ist schrecklich gescheitert, weil sie während der gesamten 100 Tage von dem Antisemitismus-Skandal und immer neuen Enthüllungen und Streitereien hierzu überschattet wurden. Das Schicksal der Palästinenser ist eine Katastrophe und war schon auf vielen politisch ausgerichteten Kunstausstellungen ein Thema. Aber Darstellungen von Juden mit üblen, stereotypen Elementen der Diffamierung hat es aber auf einer solchen Veranstaltung bislang nicht gegeben. Dass die Ruangrupa-Mitglieder, zu deren Programm doch eigentlich die Neugier auf das Fremde und Unerwartete, die Empathie für Unterdrückte, für Opfer des Kolonialismus und der Globalisierung gehört, genau diese Sensibilität angesichts der weltweit grassierenden Feindlichkeit gegen Juden nicht aufbrachten, ist völlig unverständlich. Auch die spezielle Empfindlichkeit der Deutschen scheint sie nicht sonderlich berührt zu haben. Warum versperrten sie sich, wo doch schon Monate vor der Eröffnung der Antisemitismus-Verdacht im Raum stand? Warum vermochten es weder das Kuratorenkollektiv noch die Geschäftsführung, sich im Vorfeld die potenziell heiklen Werke genau anzuschauen? Oder hatten die polemisch israelkritischen Bilder und Filme am Ende sogar System und gehörten ganz bewusst zum Konzept der Ausstellung?
Als sich die Ruangrupa-Mitglieder gar nicht mehr anders zu helfen wussten, warfen sie ihren deutschen Kritikern Rassismus vor. Was dabei durchklang: Wer nicht so denkt wie wir, ist nicht unser Freund. Es ist der Kampf der Identitäten, der schon seit Jahren in linken wie rechten Milieus die Debatten bestimmt und oft jeden versöhnlichen Austausch von Argumenten verhindert. These, Antithese, Synthese: Das bewährte kritische Denken sowie die Neugier und Toleranz der Aufklärung werden an den Rand gedrängt. Stattdessen: Wer bist du? Zu welcher Gruppe gehörst du? Hast du überhaupt das Recht, dich zu diesem Thema zu äußern?
Nach allem, was ich vor Ort in Kassel erlebt habe, will ich solche Intoleranz dem Großteil der beteiligten Kollektive nicht unterstellen. Umso schlimmer ist es, dass Ruangrupa – und ihr Umfeld – durch die rätselhafte Untätigkeit in dem Antisemitismuskomplex nicht nur die so vielversprechend gedachte und begonnene Documenta, sondern auch Hunderte von beteiligten Künstlern schwer beschädigt. Wer weiß, ob wir die wahren Hintergründe irgendwann erfahren. Die Besucher übrigens kamen neugierig wie eh und je nach Kassel. Bis zu ihrem Schluss am Sonntag sahen 738.000 Menschen die Ausstellung.