Der Kunstverein Dresden zeigt Arbeiten der belarussischen Künstlerin Rufina Bazlova, die stickend protestiert
ShareBlutrot ist die Wand im Kunstverein Dresden. Darauf eine Reihe von Stickereien, wie zu kleine Pflaster auf einer offenen Wunde. Auf den weißen Stofffeldern erzählt rotes Garn im Kreuzstich von derzeit in Belarus inhaftierten politischen Gefangenen. Die vereinfachten Darstellungen von Festnahmen und Gefängniszellen erinnern an die Pixeloptik früher Videospiele. Gemeinsam mit der Kuratorin Sofia Tocar hat die Künstlerin Rufina Bazlova 2021 das Projekt „Framed in Belarus“ gestartet. Ihr Ziel: Sichtbarkeit für nicht rechtmäßig verurteilte Gefangene zu schaffen. Auf der Website framedinbelarus.net stellen sie Stickvorlagen zum Download zur Verfügung und laden andere dazu ein, Stück für Stück zur Collage mit Portraits und den Namen der Inhaftierten beizutragen. Seit der Eröffnung der Einzelausstellung „Outpost“ von Rufina Bazlova Anfang September haben sich bereits einige Stickende neu angemeldet. In einem Aktenordner im Ausstellungsraum in der Dresdner Innenstadt blättert man durch gesammelte Informationen zu den Inhaftieren, darunter auch originale Porträtfotos der zumeist jungen Männer, die deren Schicksal im wahrsten Wortsinn berührend greifbar machen.
Eine Stickerei fällt besonders auf: Weißer Faden auf weißem Stoff erinnert an Andrei Zeltser: Am 28. September 2021 brachen belarussische KGB-Offiziere die Wohnungstür des Programmierers auf, erklärt der A4 große Wandzettel, der mit rotem Maskingtape an der Wand klebt. Nach Angaben des Lukaschenko unterstellten Untersuchungsausschusses der Republik Belarus eröffnete Zeltser mit einem Jagdgewehr das Feuer. Bei der Schießerei wurden er und der KGB-Offizier Dmitry Fedosyuk getötet. Ein bearbeitetes Video des Geschehens wurde sowohl von staatlichen als auch von unabhängigen Massenmedien in Belarus verbreitet. Etwa 150 Personen, die das Video online kommentiert hatten, wurden in den darauf folgenden Tagen festgenommen. Ihnen wurde vorgeworfen, Regierungsbeamte beleidigt und Hass verbreitet zu haben. Porträts von 21 dieser Gefangenen sind im Rahmen von „Framed in Belarus“ bereits gestickt worden. Die Zahl der offiziell anerkannten politischen Gefangenen in Belarus beläuft sich derzeit auf mehr als 1.200 Personen.
Die Dresdner Präsentation mit weiteren Werken von Rufina Bazlova lädt dazu ein, sich mit der Geschichte und Gegenwart der Protestbewegung auseinanderzusetzen und die demokratische Selbstbestimmung – nicht nur in Belarus – zu unterstützen. Schon als es im Sommer 2020 unter Machthaber Lukaschenko zu Wahlfälschung und massiven antidemokratischen Repressionen kam, nutze Bazlova die Form der Stickerei, um das Unrecht zu dokumentieren. Sie entwickelte neue Symbole und Codes, die die traditionelle Handarbeit in die Gegenwart fortschreiben. Kreuzstich formt Panzer. Die Motive erinnern an die traditionelle Wyschywanka-Stickerei, an Muster, die seit Jahrhunderten auf Kleidung gestickt werden und Themen wie Liebe, Sonne und oft auch heidnische Symbole darstellen. Gestickt rund um Hals, Saum oder Ärmel, sollen sie den Körper vor bösen Einflüssen schützen. Das rote Garn symbolisiert Blut und Leben. Traditionell stickten Frauen – sie konnten oft nicht lesen und schreiben, sodass die Wyschywanka für sie auch eine Möglichkeit war, Informationen weiterzugeben. Bei der Eröffnung in Dresden war allein die formale Umsetzung Ausgangspunkt vieler Gespräche, vor allem unter älteren Besuchenden, die sich an eigene Handarbeiten und die damit oft verbundenen freudigen Familienereignisse wie Taufen und Hochzeiten erinnert haben.
Stickereien herzustellen ist ein zeitaufwändiger Prozess. Und Zeit hatte der politische Widerstand in Belarus nicht. Rufina Bazlova übertrug ihre gestickten Motive in Grafiken und produzierte Siebdrucke, Baumwollbeutel und Postkarten, um sie schneller verbreiten zu können. Auch in den Sozialen Medien kursierten die digitalen Prints. So ist Kuratorin Arne Linde über Instagram auf die 1990 in Belarus geborene Illustratorin aufmerksam geworden, die seit vielen Jahren in Prag lebt. Bereits im März 2021 organisierte Linde, angeregt von Bazlovas Arbeit, in ihrer Leipziger Galerie ASPN eine Ausstellung zur Thematik der Demonstrationen. Schon dort war ein großes Originaltransparent von den Protesten zu sehen: Es zeigt eine auf dem Rücken liegende Kakerlake – Chiffre für Präsident Alexander Lukaschenko, die sich auch auf Siebdrucken und digitalen Bildern wiederfindet. Im Märchen „Tarakanischtsche“ des russischen Dichters Kornei Tschukowski von 1921 tyrannisiert eine Kakerlake die gesamte Tierwelt. Im Wahlkampf 2020 wählte Sergey Tihanovsky für seine Kampagne als Präsidentschaftskandidat das Motto „Stoppt die Kakerlake“. Und während der Proteste gingen viele Menschen mit einem Pantoffel auf die Straße, bereit, die Kakerlake zu erschlagen.
In Dresden berichtet eine sieben Meter lange Stickerei von den Ereignissen seit der manipulierten Wahl. Der Kreuzstich in der „Saga of Protest“ generiert Menschenketten und Mannschaftswagen der Polizei. Liegend auf einer langen Tafel mit Tischdecke verdeutlicht die Präsentation die Dimension der Proteste, die vor dem Privatraum nicht Halt machten – bei zahlreichen Gelegenheiten durchsuchte die Polizei Privatwohnungen, ohne sich auszuweisen, geschweige denn einen Durchsuchungsbefehl vorzulegen. Die von der Autorin Tanja Milewsky in Zusammenarbeit mit der Künstlerin erarbeiteten Kurztexte vermitteln hängend über dem Stickerei-Frieß, was seit dem Beginn der Proteste am 9. August 2020 geschehen ist und vermittelt wichtige Hintergründe, etwa zur Flagge der der Weißrussischen Volksrepublik: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wählte die unabhängige Republik Belarus die Flagge von 1918 als neue Nationalflagge – ein rotes Banner auf weißem Grund. Nach 1994 sorgte Lukaschenko dafür, dass die alten sowjetischen Symbole wieder in der Öffentlichkeit auftauchten und die rot-grüne Flagge wieder eingeführt wurde. Spätestens seit Sommer 2020 gelten die von Bazlova in ihren Werken konsequent genutzten Farben Rot und Weiß als Farben des Widerstands.
Für Arne Linde ist die Arbeit von Rufina Barzlova ein Beweis dafür, dass Kunst politisch sein kann, ohne aufzuhören, Kunst zu sein. „Wir können Teil der Sichtbarmachung werden, wir können helfen, Repression und Unrecht zu benennen“, sagt Linde. „Handeln und Widerstand sind möglich.“ Im Zentrum der Ausstellung steht ein Kopierer: Nicht nur symbolisch erinnert er an die Möglichkeit der Vervielfältigung von Flugblättern. Besuchende können ihn nutzen, um sich die Wandtexte zu vervielfältigen, ein eigenes Ausstellungsbooklet zusammenzustellen oder mit roter Stempelfarbe eigene Botschaften und Muster entwickeln und diese kopieren.
Besuchende werden in Dresden unweigerlich Zeugen, halten Erinnerung und Wissen präsent, und sei es in Form eines rot bedruckten weißen Stoffbeutels mit roten Henkeln, der für 25 Euro zu erwerben ist. Rufina Bazlova ins Programm der Galerie aufzunehmen, davor zögert Linde. Zu groß sei die Gefahr, dass die Arbeit vom Markt vereinnahmt würde. Kleinere Formate verkauft sie durchaus, versteht sich als Unterstützerin. Auch die Weserburg in Bremen und das Suermondt-Ludwig-Museum in Aachen präsentierten in diesem Jahr schon Bazlovas Werke. Und für die drei Masten vor dem kürzlich eröffneten MINSK Kunsthaus in Potsdam hat sie Flaggen gestaltet, die auf ihre Kreuzstichstickereien zurückgehen und die sich wiederum auf die politische Lage in Belarus beziehen.
„Solidarisch zu sein bedeutet, die Freiheit und die demokratischen Selbstbestimmungsrechte überall auf der Welt zu verteidigen“, verdeutlicht Kuratorin Arne Linde die Relevanz der künstlerisch-aktivistischen Arbeit und ergänzt: „Demokratie bleibt Handarbeit.“ Spätestens als Präsident Zelenskiy im August 2022 anlässlich der Eröffnung der ukrainischen Unabhängigkeitswoche ein Hemd mit gestickten Motiven von Rufina Bazlova trug wurde deutlich, dass ihre Wyschywanka-Motive ein eigenes politisches Potenzial entwickelt haben: Aus einer künstlerischen Handarbeit ist ein Symbol der demokratischen Selbstbestimmung und der Solidarität geworden.
„Rufina Bazlova – Outpost“,
bis 19. November,
Kunstverein Dresden e.V.