Mit Logos und Piktogrammen prägte Otl Aicher das visuelle Bild der BRD, sein heiteres Design für die Olympischen Spiele in München ist ein moderner Klassiker. Vor 100 Jahren wurde er geboren
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21.10.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 205
Für intellektuell-avantgardistische Entwürfe wie Gerrit Rietvelds Lattenstuhl hatte Otl Aicher nicht viel übrig. Er nannte das Möbel abschätzig einen Mondrian zum Sitzen, schlimmer noch: ein untaugliches Kunstobjekt. Wenn es um Fragen des Designs ging, wich der gebürtige Ulmer keinen Millimeter von seinen Prinzipien ab. Kunst habe im Design nichts zu suchen, das diene nur der ästhetischen Aufladung und dem Aufhübschen von Dingen. Otl Aicher hat der Nachwelt – bis auf wenige Ausnahmen – keine Möbel, Geschirrserien oder Lampenentwürfe hinterlassen. Seine Vision war größer. Er wollte die Welt neu ordnen mit der Sprache der Grafik, mit Farbkonzepten und mit einer sozialen Logik räumlicher und technischer Systeme: rational, geradlinig, übersichtlich und ohne emotionalen Ballast. Das Porträt von 1953 zeigt ihn treffend. Es ist das Jahr, in dem er mit seiner Frau Inge Aicher-Scholl und Max Bill die Hochschule für Gestaltung in Ulm (HfG) gründete. Immer am technisch Modernsten interessiert, steht der damals 21-Jährige vor einem Regal aus Drahtseilen und hauchdünnen Einlegeböden im Atelier. Akkurat stapeln sich Zeitschriften und Papierrollen. Ernst und mit einer Spur von Trotz im Gesicht steht er vor seinem aufgeräumten Schreibtisch. Ein leeres Blatt Papier, Pinsel und Schere, das ist die selbst zurechtgelegte Carte blanche eines der einflussreichsten Gestalter der Nachkriegszeit.
In diesem Jahr jährt sich Aichers Geburtstag zum 100. Mal; zugleich liegen die Olympischen Spiele in München 1972, denen er einen modernen, optimistischen Look gab, 50 Jahre zurück. Das Doppeljubiläum ist Anlass für Ausstellungen im Berliner Bröhan-Museum, im Museum Ulm sowie im HfG-Archiv in der Stadt, aber auch in Lüdenscheid, Detmold und Isny. Neue Bücher widmen sich ihm, und seit einigen Monaten erschließt eine materialreiche Website Leben und Wirken des Gestalters. Denn es ist unbestritten: Aicher war nach dem Zweiten Weltkrieg Westdeutschlands wegweisende Persönlichkeit in Fragen der visuellen Kommunikation. Seine Corporate-Identity-Konzepte haben zahlreiche deutsche Firmen von Braun bis zur Sparkasse geprägt, manche bis heute.
Das Erscheinungsbild der Olympischen Spiele aber sehen viele als Höhepunkt seiner Laufbahn. Es war ein politischer Auftrag, der ihn aus dem Kreis der marktorientierten Unternehmen heraustreten ließ. Olympia sollte die Visitenkarte der damals noch jungen Bundesrepublik werden. Die deutschen Farben Schwarz, Rot, Gold kamen bei ihm nicht vor. Seine Jugend unter dem Naziregime, seine Erlebnisse als Freund der hingerichteten Widerständler Hans und Sophie Scholl und nicht zuletzt die Ehe mit der Scholl-Schwester Inge machten ihn zeitlebens skeptisch gegenüber dem Staat. Für Olympia wählte er anfänglich Blau, Weiß und Silber, später kamen Orange, Gelb und Grün hinzu. In der ganzen Stadt stimmten Fahnen, Banderolen und Plakate mit den Regenbogenfarben die Besucher auf heitere Spiele ein. Mit einem Team von 25 Grafikern entwickelte er die auf Fotografien fußenden Athletenplakate, Streichholzschachteln, Info-Broschüren und das Maskottchen „Waldi“, ein fröhlich gestreifter Dackel. Die Entwürfe wirken heute noch frisch. Auch die Mode der Spiele war einer Farbskala unterworfen und unterlag der Abteilung „visuelle Gestaltung“, hellblaue Dirndl für die Hostessen, gelbe Overalls für das Schiedspersonal beispielsweise.
Für Otl Aicher war Design stets ein soziokulturelles Projekt. Es ging darum, den Menschen in der modernen Welt Orientierung zu bieten. Für den Frankfurter Flughafen, wo er von 1967 bis 1979 das Leitsystem betreute, entwarf er Piktogramme. Koffer verwiesen auf die Gepäckkontrolle, aufsteigende und absteigende Flugzeuge standen für Ankunft und Abflug, stilisierte Figuren wiesen zur Besucherplattform. Als sprachübergreifende Zeichen nutzte Aicher die Piktogramme auch in München. Mit verfeinerten und dynamischen Strichzeichnungen wurden alle Sportarten visualisiert; sie hingen über den Eingängen der Spielstätten, waren auf die Eintrittskarten gedruckt und zierten selbst Bierdeckel. Das ZDF, dessen Optik Aicher seit 1969 gestaltete, hat in seiner Sportsendung noch lange mit diesen unmissverständlichen Elementen gearbeitet.
Aichers Werk hat viele Seiten und Facetten. Er entwarf Plakate, gestaltete Bücher von Ilse Aichinger und Hans Peter Richter, kreierte Signets für die Stadtverwaltungen in Konstanz und Isny, Logos für Firmen wie Puma oder FSB. Oder er machte trockene Geschäftsberichte großer Firmen zu attraktiven Broschüren, verschaffte schwerblütigen Themen in Ausstellungen zu visueller Prägnanz. Design war für ihn Zivilisationsarbeit, die nicht belehrt, aber Erkenntnis schafft. Die unseren Alltag an die gesellschaftlichen Bedingungen anpasst, die Hierarchien auflöst und dennoch jedem seinen Platz gibt. Das konnte wie etwa bei der Dresdner Bank ganz simpel sein: Aicher rückte die Schalter in die Mitte der Filialen, um das Unzugängliche aufzuheben, integrierte Sitzlandschaften und verpasste allen Drucksachen nicht nur die Helvetica-Schrift, sondern dem kleinen achteckigen Signet des Geldhauses wie dem gesamten Auftritt eine angenehme grüne Farbe. Aicher war überzeugt, dass Gestaltung das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt verändert. Und bei allem, was er tat, war er der Pate seiner komplexen Weltverbesserer-Ideen. Dazu gehörte auch die konsequente Kleinschreibung als Mittel zur Auflösung der Worthierarchien – ein Experiment, das fehlschlug.
Im restaurativ gestimmten Nachkriegsdeutschland war er für viele wohl ein unbequemer, elitärer Intellektueller. Mit seiner Auffassung, dass Design konkretisierte Firmenphilosophie ist, konnten sich bis in die Sechzigerjahre nur wenige Unternehmen anfreunden. Eines davon hieß Braun. Der Hersteller von Elektrogeräten arbeitete seit den frühen Fünfzigern an neuen Produktlinien und an einer unverkennbaren Außendarstellung. Arthur und Erwin Braun, Söhne des Firmengründers, suchten bewusst den Kontakt zu anderen Progressiven, so führte sie der Weg auch nach Ulm an die HfG. Sie beauftragten Aicher, grafische Konzepte zu entwickeln. HfG-Dozent Hans Gugelot, Miterfinder des spartanischen Ulmer Hockers, entwickelte gemeinsam mit den gerade engagierten Industriedesigner Dieter Rams den berühmten „Schneewittchensarg“. Technoid, schnörkellos und nur mit den nötigsten Schaltern ausgestattet, war die Radio-Plattenspieler-Kombination die Geburtsstunde des neuen Braun-Designs. Aicher steuerte die Skalen und Schriften zu den Geräten bei, als Berater aber dürfte sein Einfluss größer gewesen sein. Er brachte immer wieder den Systemgedanken als Voraussetzung für ein richtungsweisendes Baukastensystem ins Spiel, was den Stil dieser Geräte letztlich mitbestimmen sollte.
Eine Sternstunde Aichers in der Zusammenarbeit mit Braun war der Messestand auf der Deutschen Rundfunk-, Fernseh- und Phono-Ausstellung 1955 in Düsseldorf. Die Präsentation in einem Modulsystem aus zusammengesteckten Stahlrohren und Platten passte perfekt zur Modernität der Produkte. Deckenspots strahlten die Geräte an, die auf eleganten Knoll-Möbeln standen. Das war ein Auftritt, der in die Zukunft wies. Für die HfG war Braun nicht die einzige Firmenzusammenarbeit. Aicher hatte die Entwicklungsgruppe E 5 ins Leben gerufen, um praxisorientiert Projekte zu entwickeln. Firmen wie BASF, Blohm+Voss oder Pelikan, aber auch das Goethe-Institut gehörten zu den Auftraggebern. Der Geist der 1953 gegründete HfG war so etwas wie der Gegenentwurf zum konservativen Leitbild der Bundesrepublik während der Adenauer-Zeit, ein kritisches Ideal eines neuen gestalterischen Bewusstseins.