Die amerikanische Malerin Alice Neel porträtierte linke Aktivistinnen genauso wie Nachbarskinder in New York. Das Centre Pompidou widmet ihrem inklusiven Blick nun eine große Retrospektive
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15.11.2022
Zu Außenseitern fühlte sich Alice Neel ihr Leben lang hingezogen. „Ich war immer für die Verlierer, die Underdogs“, sagte sie einmal. So kam es, dass nicht die Großen und Mächtigen vor ihrer Staffelei Platz nahmen. Stattdessen porträtierte Neel neben Freunden und Familie immer wieder Menschen, die ihren Weg zufällig kreuzten: die Bohemiens aus dem New Yorker Greenwich Village, ihre Nachbarn in Spanish Harlem und Subkultur-Strippenzieher.
Das Pariser Centre Pompidou nimmt Neels inklusives Bildprogramm nun genauer in den Blick. Was trieb diese Malerin an, die heute als eine der wichtigsten Nachkriegskünstlerinnen Amerikas gilt? Wer war diese Frau, die an der Porträtmalerei festhielt, während die Welt um sie herum abstrakt wurde? Neel selbst begriff ihre Kunst als persönliche Geschichtsschreibung: „Ich male meine Zeit, indem ich Menschen als Beweisstücke nutze.“ Ihre Zeit umfasste dabei beinahe ein Jahrhundert: 1900 wurde sie in der Nähe von Philadelphia geboren, Ende der Zwanzigerjahre ließ sie sich in New York nieder, wo sie bis zu ihrem Tod lebte. Bis zu ihrer ersten Retrospektive 1974 im Whitney Museum vergingen mehr als vierzig Jahre, in denen sie unbeachtet vom Kunstbetrieb arbeitete. Erste Erfolge feierte Neel noch im hohen Alter, die große Anerkennung folgte jedoch erst posthum. Ein eigenes Atelier konnte sie sich nie leisten. Wer für sie Modell sitzen wollte, besuchte sie zu Hause.
Heute sehen wir in ihren Bildnissen nicht nur persönliche Begegnungen, sondern auch die politischen Entwicklungen der Zeit. Im Center Pompidou folgt man diesen chronologisch – angefangen bei Neels Stadtszenen, die die Nöte der Großen Depression einfangen. In ihrer „Cityscape“ von 1933 werfen die U-Bahn-Bögen lange Schatten auf den Asphalt, dazwischen huschen die Menschen gebückt als gesichtslose Silhouetten hindurch. In der „Synthesis of New York“ aus demselben Jahr blickt man statt in ausgemergelte Visagen in Totenkopfmasken: Alice Neel lässt die Passanten als Untote auftreten. Das Manhattan der Dreißigerjahre ist eine Hölle, der man nicht entkommt.
In den kommunistischen Kreisen fand Neel damals schnell Anschluss. Zu einflussreichen Linken wie dem Journalisten Art Shields und dem Autor Mike Gold pflegte sie langjährige Freundschaften. Mehrfach saßen sie für Neel Modell. In die Tradition der klassischen Porträtmalerei wollte sie sich dabei aber nie einordnen: Um ihre Praxis von Machtikonografie abzugrenzen, bezeichnete sie ihre Gemälde schlicht als „pictures of people“ – als „Bilder von Menschen“. Jeden und jede begriff sie unabhängig von Klasse, Geschlecht und Herkunft als bildwürdig. Obwohl manche ihrer Modelle zu Schlüsselfiguren von sozialen Bewegungen wurden, waren es allen voran anonyme Zeitzeugen, die Neel für die Nachwelt festhielt.
Durch ihren Umzug in das Armenviertel Spanish Harlem Ende der Dreißigerjahre fand sie sich im Epizentrum der lateinamerikanischen Einwandererkultur wieder. Neels Selbstverständnis als Aktivistin, als „anarchistische Humanistin“, wie sie sich selbst bezeichnete, flaute auch hier nicht ab. Als weiße Frau konnte sich Neel mit der Nachbarschaft nie oberflächlich gemein machen. Rassismuserfahrungen gehörten nicht zu ihrem Alltag. Aufgrund ihrer sozialen Situation als alleinerziehende Mutter kannte sie Ausgrenzung aber nur zu gut. Menschen, die ihr auf der Straße auffielen, lud sie zum Modellsitzen in ihre Wohnung ein. Zwischen 1950 und 1959 taucht der puerto-ricanische Nachbarsjunge Georgie Arce fast ebenso oft auf den Leinwänden auf wie Neels eigene Söhne. Mal gelangweilt, mal schelmisch grinsend lümmelt er an Neels Küchentisch und posierte als Kind bereits so abgeklärt wie die harten Jungs im Viertel.
Nachdem ihre Söhne erwachsen waren, brach für Neel ein neuer Karriereabschnitt an: Allein ihrer Malerei verpflichtet, mischte sie sich unter die hippe Künstlerszene der Zeit. Sie machte Bekanntschaft mit den Beatniks und später mit Andy Warhol, den sie 1970 auf dem Höhepunkt seiner Karriere porträtierte. Ein Jahr zuvor hatte der Stonewall-Aufstand einen Meilenstein im Kampf der LGBTQ-Bewegung für Gleichberechtigung markiert. Zwei Jahre zuvor wäre Warhol bei einem Attentat beinahe ums Leben gekommen. Beide Ereignisse haben sich, wie Neels Porträt suggeriert, in Warhols Haut eingeschrieben. Neel zeigt den Künstler ohne Schutzpanzer: Mit geschlossenen Augen und entblößtem Oberkörper sitzt er auf der Kante einer Chaiselongue. Auf seinem Bauch zeichnen sich die Narben ab, die der Mordanschlag hinterlassen hat. Warhol, der gefeierte, queere Pop-Art-Gott, wird unter Neels Blick zum zerbrechlichen Memento Mori.
Unter den Second-Wave-Feministinnen, die in den Siebzigerjahren für Frauenrechte ins Feld zogen, erfuhren Neels Bilder viel Bewunderung. Einerseits inszenierte sich Neel in diesen Kreisen als Vorreiterin, andererseits widersetzte sie sich der feministischen Agenda vehement. Die Malerin May Stevens brachte es auf den Punkt: „She wasn’t a feminist; she was an Alice Neelist.“ Vertreterinnen der neuen Frauenbewegung wie Irene Peslikis, eine linke Künstlerin und Gründerin des „Feminist Art Journal“, porträtierte Neel dennoch. Ein Bein hat Peslikis lässig über die Stuhllehne geschlungen, mit einem Arm hält sie sich am Kopfende fest und entblößt dabei ihr Achselhaar. Sie gibt das Bild einer Frau ab, die die (Körper-)Sprache der Männer beherrscht. Neel scheint ihr die Pose jedoch nicht abzukaufen: Bezeichnenderweise betont sie im Werktitel weniger Peslikis‘ feministische, sondern vielmehr ihre politische Agenda. Peslikis, das „Marxist Girl“, bleibt am Ende eine linke Verbündete – und vor allem ein Mädchen.
Auch wenn Neel zum Ende ihres Lebens auf dem Höhepunkt ihrer Karriere angekommen war, hatte sie die Strapazen, die auf ihrem Weg lagen, nicht vergessen. Das Gefühl, nie ganz dazuzugehören und sich trotzdem nicht vom Kurs abbringen zu lassen, bildete die Basis für ihr Schaffen. Wenn sie ihre Modelle auswählte, suchte sie nicht nach Führungspersönlichkeiten, sondern schlicht nach Persönlichkeit. Die Schau im Centre Pompidou führt eindrucksvoll vor, wie weit Neel ihrer Zeit voraus war: Neel malte nicht nur „pictures of people“, sie gab dem gelebten Pluralismus ein Gesicht.
„Alice Neel: Un Regard Engagé“,
bis 16. Januar,
Centre Pompidou, Paris