Die Barnes Foundation in Philadelphia feiert ihr hundertjähriges Bestehen und schaut sich in einer Ausstellung die Arbeitsweise des Malers Amedeo Modigliani an
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10.11.2022
War es die pure Not oder eine bewusste Wahl? Amedeo Modigliani hat Vorder- und Rückseite einer Leinwand genutzt, um einen weiblichen Akt mit Hut sowie ein Frauenporträt zu malen. Die Leinwand selbst war auch nicht neu. Röntgenaufnahmen zeigen, dass derselbe oder ein anderer Künstler jede Seite bereits zuvor schon verwendet hatte; unter dem Akt lassen sich sogar drei vorherige Motive ausmachen. Fest steht: Modigliani hatte wenig Geld, als er 1906 nach Paris kam. Zu Beginn seiner Karriere war er durchaus gezwungen, gebrauchte Leinwände billig zu kaufen. Andererseits scheint er auch durchaus absichtsvoll eigene Entwürfe mehrfach auf demselben Bildträger übermalt zu haben.
Die Barnes Foundation in Philadelphia feiert ihr hunderjähriges Bestehen mit der ungewöhnlichen Ausstellung „Modigliani Up Close“. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, einen Blockbuster, etwa mit Henri Matisse, weitgehend aus dem eigenen Bestand zu realisieren. Obwohl man selbst über 59 Arbeiten des Künstlers verfügt und „Der Tanz“ als eines der Hauptwerke eine nicht transportable Wandmalerei ist, überlässt man den Publikumsmagneten dem benachbarten Philadelphia Museum of Art und widmet sich Modigliani, von dem man selbst nur ein Dutzend Gemälde besitzt. Allerdings verfügt außer der National Gallery in Washington kein anderes Museum über so viele gesicherte Gemälde.
Zudem ist „Modigliani Up Close “ keine originär eigene Entwicklung; sie baut vielmehr auf der Ausstellung auf, die 2017 in der Tate Modern in London zu sehen war. Das Besondere in der Barnes Foundation ist der gleichzeitig wissenschaftliche und pädagogische Zugang zum Schaffen des Künstlers, der den Besucher mitnimmt, ohne ihn zu unter- oder überfordern. Letzteres hätte man vielleicht erwarten können – besteht das vierköpfige Kuratorinnenteam doch zur Hälfte aus Konservatorinnen. „Es ist ein neuer Ansatz“, erklärt Barbara Buckley, Chefkonservatorin der Barnes Foundation. „2017 haben wir gesehen, wie viele Fragen sich ergeben haben.“ Sie seien zwar nicht die ersten, die sich mit der Arbeitsweise Modiglianis beschäftigen, „aber wir wollten zeigen, wie sich etwa die Verfügbarkeit von Materialien auf die Produktion ausgewirkt und die Arbeit beeinflusst haben.“ Forschungen zur Materialtechnik als Grundlage für eine Ausstellung: Das klingt nach einer trockenen Angelegenheit, doch ist die Schau alles andere als das. Dafür sorgt schon die Fülle des Begleitmaterials, sorgen Skizzen und Röntgenaufnahmen oder die Zusammenschau mehrerer Skulpturen, die den Arbeitsprozess und die Entwicklung der Formensprache Modiglianis nachvollziehbar werden lassen.
Kuratorin Simonetta Fraquelli, die schon an der Ausstellung in der Tate mitgearbeitet hat, erzählt: „Wir wollten keine abschließenden Ergebnisse präsentieren. Durch die Untersuchungen ergeben sich oft mehr Fragen als Antworten. Wir zeigen hier also den Stand einer fortlaufenden Diskussion.“ Die Arbeitsweise Modiglianis und seine künstlerische Entwicklung werden sicht- und nachvollziehbar gemacht.
Für Buckley gehört das zum Selbstverständnis der Barnes Foundation: „Der Fokus auf den Prozess ist Teil unseres pädagogischen Auftrags. Wir hoffen, dass auch viele Künstler kommen und sich anregen lassen.“ Diesen selbstgewählten Auftrag nehmen die Kuratorinnen nicht nur sichtlich ernst, sie erfüllen ihn auch weitgehend bravourös. Dabei können sie auf eine digitale Infrastruktur zurückgreifen, um die man sie aus deutscher Sicht nur beneiden kann. Das beginnt beim freien Internetzugang für die Besucher, der in vielen europäischen Museen immer noch nicht selbstverständlich ist. Wenn es ihn gibt, müssen sich Nutzer oft umständlich anmelden und persönliche Daten preisgeben. In der Barnes Foundation ist das Internet einfach da, es genügt das eigene Smartphone, um sich im Internetbrowser von einem interaktiven Führer durch die Ausstellung leiten zu lassen. Zu vielen Exponaten gibt es weiterführende Informationen. Es reicht, die Kamera auf ein Kunstwerk zu richten, damit die entsprechenden Texte, Vergleichsbilder und Literaturangaben angezeigt werden. Sogar Röntgenaufnahmen lassen sich mittels eines Schiebers über ein Bild legen – so kann man selbst Gemälde und Unterzeichnung vergleichen. Auf diese Art lässt sich der Kunstgenuss zu einer unterhaltsamen Lehrstunde nach eigenem Gusto gestalten, die vielleicht mehr Menschen als die üblichen Museumsgänger anspricht. Auch für hiesige Institutionen sicher nicht die schlechteste Idee.
„Modigliani Up Close“,
bis 29. Januar,
Barnes Foundation, Philadelphia