Museion in Bozen

„Krankheiten wandeln sich mit der Zeit“

Die Ausstellung „Kingdom of the Ill“ nimmt sich Fragen vor, die im Kunstbetrieb oft ausgeblendet werden. Sara Cluggish und Pavel Pyś erklären, wie Aktivismus die Museumswelt verändert, und was es mit der Identitätskrise der Kunstinstitutionen auf sich hat

Von Philipp Hindahl
24.11.2022

Sara Cluggish, Pavel Pyś, lassen Sie uns mit dem Titel Ihrer Ausstellung beginnen: „Kingdom of the Ill“. Den entlehnen Sie einem Essay von Susan Sontag. Aber was soll das durchgestrichene Wort?

Pavel Pyś: Wir sind immer wieder zu Sontags Text zurückgekehrt. Sie ist sehr klar in ihrer Unterscheidung von krank und gesund. Aber so haben wir überhaupt nicht über das Thema nachgedacht. Wir hatten nicht das Gefühl, man wäre entweder das eine oder das andere, eher schien es uns wie ein ständiges Aushandeln. Sara und ich haben mit vielen Künstler:innen zusammengearbeitet, die chronisch krank sind. Ihre Ansichten haben uns in dieser Lesart bestärkt.

Moment, wenn man chronisch krank ist, kann man sich aber nicht dekonstruktiv gesund denken. Sehen Sie da die Gefahr, dass Sie Bedürfnisse von kranken Menschen unsichtbar machen?

Sara Cluggish: Absolut. Aber Krankheiten fluktuieren und wandeln sich mit der Zeit. Es ist ein Spektrum. In dieser Ausstellung wollen wir die eigenen Geschichten über Gesundheit und Krankheit der Künstler:innen in den Vordergrund stellen und dabei verschiedene Perspektiven einbeziehen: Care, mentale Gesundheit, Sucht und Genesung.

Sara Cluggish hat die Ausstellung „Kingdom of the Ill“ gemeinsam mit Pavel Pyś kuratiert. © Foto: Nate Ryan

Eine These der Ausstellung ist, dass Krankheit an Dinge wie Politik und Nation gebunden ist. Wie hängt so etwas Persönliches mit diesen ganz großen Strukturen zusammen?

SC: Ein Beispiel. Wir zogen 2016 in die USA und mussten uns als Erstes in dem System der privaten Krankenversicherung zurechtfinden. Man soll da versuchen, sich um sich selbst zu kümmern, hat aber gleichzeitig das Gefühl, keine Kontrolle zu haben.

PP: Dieses Problem illustriert Johanna Hedvas Video „Untitled (Somebody Cheating Me)“. Darin wird die Alzheimer-Erkrankung von Hedvas Großmutter mit der kalten, unpersönlichen und gierigen Sprache der Krankenhausrechnungen zusammengebracht. Da steckt schon diese ganze Spannung drin.

SC: Johannas Großmutter liest alte Rechnungen vor und benutzt diese bürokratische Sprache. Johanna ist dann in der Position, für die Großmutter sorgen zu müssen. Diese Rolle ist ungewöhnlich, denn normalerweise spricht Johanna über die eigene chronische Krankheit. Eine komplexe und schöne Arbeit!

Pavel Pyś hat die Ausstellung „Kingdom of the Ill“ gemeinsam mit Sara Cluggish kuratiert. © Foto: Gene Pittman

Sie haben Künstler:innen aus verschiedenen Generationen ausgewählt, aber die meisten Werke sind aus den vergangenen fünf Jahren. Dabei hätten Sie auch eine historische Ausstellung über das Thema machen können, von den Sechzigern bis heute. Warum dieser Zeitrahmen?

PP: Wir hätten ein sieben Mal größeres Museum gebraucht.

SC: Da hätten viele historische Arbeiten gepasst. Allerdings hat die Debatte im letzten Jahrzehnt an Fahrt aufgenommen, denn Künstler:innen bekennen sich zu chronischen Krankheiten, Institutionen machen Veranstaltungen zum Thema. Und die älteren Stimmen sprechen ja noch zu uns, nämlich durch die neuen Arbeiten der Ausstellung. Schauen Sie sich das New Yorker Duo Brothers Sick an – Ezra und Noah Benus – , die sich auf „Act Up“ beziehen, eine 1987 gegründete politische Initiative zur Verbesserung der Bedingungen von Aids-Erkrankten. Wir hätten auch die Arbeit der Organisation vorstellen können, aber wir wollten die Geschichte durch Werke von heute zeigen.

Nächste Seite