Normannen in Mannheim

Clevere Kerle

Als Schrecken an Europas Küsten waren die Normannen sehr einfallsreich, wie die Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen in einer umfangreichen Schau belegen

Von Peter Dittmar
03.01.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 207

Richard Wagner ist schuld. Als 1876 sein „Ring des Nibelungen“ uraufgeführt wurde, trugen die wackeren Recken Helme mit Hörnern. Das machte schnell Schule. Auch der Comictyp „Hägar der Schreckliche“, der Kinderbuchheld aus „Wicki und die starken Männer“ oder die Normannen, die sich mit Asterix und Obelix anlegen, unterstreichen mit Hörnerhelmen ihre Identität. Mit der historischen Wirklichkeit hat das allerdings nichts zu tun. Denn die Hörner hätten einen Schwerthieb auf den Kopf gelenkt, statt ihn zu schützen. Das ist nur ein Aspekt, auf den die Ausstellung „Die Normannen“ in den Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen aufmerksam macht. Die Nordmänner trugen, wenn sie nicht barhäuptig kämpften, den spitzen unverzierten Nasalhelm mit dem charakteristischen Nasenschutz. Das belegen Originalkopfbedeckungen sowie Buchmalereien und Kapitelle in der Ausstellung. Und nicht zuletzt Reproduktionen des Teppichs von Bayeux.

Wächterfigur Lewis Chessmen
Wächterfigur der „Lewis Chessmen“, Ende 12. Jahrhundert. © National Museums Scotland

Die Ausrüstung stellte jeder Nordmann selbst. Deshalb konnte sich nicht jeder einen Helm leisten. Weil ein Schwert zu den teuren Ausrüstungen gehörte, genügte vielen die Axt. Sie war, auch das wird gezeigt, gleichermaßen in Haus und Hof wie im Kampfe nützlich. Deshalb erscheinen die schwedischen Wikinger, die Waräger, die sich nach der Jahrtausendwende als Söldner in Konstantinopel verdingten, in manchen Zeugnissen auch als „Axtträger“.

Die Nordmänner galten nicht nur bei ihren Raubzügen als listen- und einfallsreich. Sie liebten es offensichtlich auch, ihren Anführern und Königen Beinamen zu geben, die über das gängige „der Große“, „der Heilige“ oder „der Eroberer“ hinausgingen. Es musste Karl der Einfältige, Ethelred der Ratlose, Ivar der Knochenlose, Harald Blauzahn oder Harald Schönhaar sein. Oder martialisch: Wilhelm Langschwert, Harald der Harte, Erik Blutaxt. Sie alle gehörten keineswegs zu einem Stamm, einem Volk, einem Land, wie die summarischen Bezeichnungen „Normannen“, „Nordmänner“, „Wikinger“ oder „Waräger“ nahezulegen scheinen. Es waren Gemeinschaften von Männern und Frauen aus skandinavischen Siedlungsgebieten, später auch aus der Normandie, die sich, gestützt auf ihre schnellen Boote, zu Raub- und Plünderzügen wie zu Handelsfahrten zusammenschlossen. Sie siedelten aber auch weitab von ihren Herkunftsländern, gründeten Fürstentümer und Königreiche. In der Ausstellung wird das in sieben Kapiteln abgehandelt, die mit den Eroberungen im Osten Europas beginnen und mit dem Vordringen an die Küsten des Mittelmeeres enden.

Mantel Normannen
Im sogenannten Mantel Karls des Großen spielte Friedrich II. zu Beginn des 13. Jahrhunderts auch auf das Erbe seiner normannischen Mutter Konstanze an. © Conseil de fabrique de la cathédrale de Metz, Trésor de la Cathédrale Saint-Etienne de Metz; Foto: Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Jean Christen

Völlig überraschend plünderten die Nordmänner im Juni 793 das Kloster Lindisfarne auf einer Insel vor der nordöstlichen Küste Englands: „Niemals hat man es für möglich gehalten, dass ein solcher Überfall von See aus gemacht werden konnte“, notierte der Zeitgenosse Alkuin. Danach wurden die Angreifer gut vier Jahrhunderte lang als der Schrecken Europas wahrgenommen. Das deutet in Mannheim der sogenannte „Viking Raider Stone“, das obere Fragment einer Stele, an. Auf der einen Seite zeigt er in einer Reihe sieben Krieger, zwei unbewaffnet, drei mit erhobenem Schwert, zwei mit erhobener Axt. Auf der anderen zwei Betende unter einem Kreuz, auf das zwei Hände hinweisen und über dem Sonne und Mond stehen. Ob die Stele in Lindisfarne als Gedenkstein für die Opfer oder als Mahnung für die Überlebenden geschaffen wurde, bleibt offen. Denn der Überfall wurde vielfach als göttliche Strafe für eine Missachtung christlicher Treue gedeutet.

Diese Erfahrung mit den „barbarischen und wilden Männern“, die, weil sie Heiden waren, „heilige Tempel zerstören, statt sie zu errichten“, machten Nordirland und Südengland genauso wie die Siedlungen an der französischen Küste oder rheinaufwärts Köln, Bonn, Mainz und Trier. Nur Paris kaufte sich mit 7000 Pfund Silber frei. Und mehr noch steht Konstantinopel für den Pragmatismus der Nordmänner: Als die Eroberung der Stadt misslang, handeln sie Privilegien, Zollvergünstigungen und das Recht auf Handelsniederlassungen aus. Denn bei diesen Vorstößen in den Süden mischte sich die kriegerische Gewohnheit des Plünderns mit den Interessen des Handels. Das gilt besonders für die Waräger, die über Dnjepr, Wolga und Don bis zum Schwarzen Meer vordrangen. Bereits im 9. Jahrhundert konnten sie sich im Norden Russlands festsetzen. 882 vereinten sich das nördliche und südliche Warägerreich um Nowgorod und Kiew zum Kiewer Rus. Die sowjetische wie die postsowjetisch-russische Geschichtsschreibung versucht, den Anteil der Waräger an der Rus – die wesentliche Teile der Ukraine und Weißrusslands einschließt – zu verdrängen und die Territorien als allzeit „urrussisch“ zu deklarieren. Trotzdem hatte die Eremitage in Sankt Petersburg Leihgaben zugesagt, etwa den Hypathios-Codex mit der Nestor-Chronik, die schildert, wie der Waräger Rurik als Herrscher der Rus berufen wurde. Wegen des Krieges in der Ukraine müssen nun Faksimiles die Originale, die nicht reisen durften, ersetzen. 

Runenstein Pilgårds
Runenstein von Pilgårds, Gotland, 10. Jahrhundert. © Christer Åhlin/The Swedish History Museum/SHM

In den skandinavienfernen Siedlungen mischten sich lokale Stile ins ästhetische Vokabular, nicht zuletzt, weil um die Jahrtausendwende mit der Christianisierung „heidnische“ Überlieferungen zurückgedrängt wurden. Die Ausstellungsobjekte umgreifen daher ein weites Spektrum. Das kann zum einen der sogenannte Krönungsmantel Karls des Großen sein, eine kunstvolle palermische Seidenstickerei, die später zu einem Pluviale, einem Halbkreis von drei Metern, umgearbeitet wurde. Zum anderen ist es eine Figur der „Lewis Chessmen“ aus Walrosselfenbein, ein finster dreinblickender Wächter, der wohl als Turm in einem Schachspiel diente, das 1831 auf der Isle of Lewis im Westen Schottlands gefunden wurde. Es ist nicht der einzige Spielstein, der davon zeugt, dass die Wikinger durchaus auch friedlichen Wettbewerb schätzten. Von Alltagsobjekten wie Zange, Ahle, Klappwaage, Fingerhut oder einer Stricknadel aus dem 11. Jahrhundert spannt sich der Erzählbogen der Ausstellung hin zu Schmuckstücken und bedeutenden Dokumenten wie einem auf Purpurpergament mit goldener und silberner Tinte geschriebenen kaiserlich-byzantinischen Dekret oder dem Harley Trilingual Psalter mit den Psalmen in Griechisch, Latein und Arabisch in drei Spalten nebeneinander.

Bei diesem Lehrpfad durch die vier Jahrhunderte, in denen die Normannen Europa beeinflussten und prägten, stehen hoch artifizielle Gegenstände neben naiven. Das ist schon seines ästhetischen Reizes wegen sehenswert. Allerdings gewinnt vieles über die Anschaulichkeit hinaus seine Bedeutung erst durch Erläuterungen. Der Besucher ist – wie meist in den Reiss-Engelhorn-Museen – als Leser der Erklärtexte gefordert. Und wer sich auf den kiloschweren Katalog einlässt, der weit über die Ausstellung hinausgreift, muss viel Geduld mitbringen: Weil auf ein Register wie auf eine Zeittafel verzichtet wurde, ist es mühsam, Auskunft zu einer Person, einem Ort, einem Ereignis zu finden. Die Eroberer wollen halt erobert werden.

Viking Raider Stone Ausstellung Normannen Mannheim
Der sogenannte „Viking Raider Stone“ – mit der wahrscheinlich ersten Darstellung eines Wikingerangriffs in Westeuropa. © Historic England Archive

Service

Ausstellung

„Die Normannen“,

bis 26. Februar,

Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim

rem-mannheim.de

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