Kasia Fudakowski

Der Countdown läuft

Die Künstlerin Kasia Fudakowski erforscht die Beziehung zwischen Muscheln, Macht und Energie. In ihrer neusten Ausstellung entscheiden die Besuchenden selbst, wie viel Strom verbraucht wird. Ein Atelierbesuch in Berlin

Von Clara Zimmermann
14.02.2023

Im Jahr 1859 schuf der Historienmaler Jan Matejko ein düsteres Gemälde der Königin von Polen. Es zeigt sie in fortgeschrittenem Alter, die grauen Haare unter einer goldenen Haube versteckt. Perlen so groß wie Trauben hängen an ihren Ohren, und um den Hals ruht ein prunkvolles Kreuz. Während alles um sie herum dunkel und bedrohlich wirkt, leuchtet ihre Haut hell und klar. Bona Sforza, Herzogin von Bari, Königin von Polen und Großfürstin von Litauen, greift nach einem edlen Kelch. Dass dessen Inhalt tödlich ist, konnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Das Getränk war im Auftrag des machthungrigen Königs Philipp von Spanien aus dem Geschlecht der Habsburger mit Gift versehen worden. So besagt es die Legende.

Königin Bona (1494–1557) war eine echte „Power-Frau“. Nachdem sie, 23 Jahre alt, mit König Siegsmund von Polen verheiratet wurde, bewies sie fernab ihrer Heimat großes Talent in Wirtschafts- und Kulturpolitik. Es heißt, sie war sehr strebsam und handelte oft selbstständig. Sie ließ Schlösser, Schulen und Krankenhäuser bauen. Damit machte sie sich als Frau im 16. Jahrhundert nicht gerade viele Freunde. Im Jahr 2023 hängt Bona Sforza nun in Berlin-Schöneberg. Der unheilbringende Kelch rechts neben ihr. An ihm ist eine Schnur befestigt, an der man ziehen kann. Sie ist einer der vielen Lichtschalter, die Kasia Fudakowski in der Galerie ChertLüdde installiert hat.

Kasia Fudakowski Königin Bona
Hell erleuchtet: Königin Bona im hinteren Raum von Kasia Fudakowskis Atelier. © Catherine Peter

Ein ruhiger Hinterhof in Kreuzberg, zwölf Tage vor Ausstellungsbeginn. Fernab vom Trubel rund um den Mehringdamm in Berlin-Kreuzberg hat sich die junge Künstlerin ein 82 Quadratmeter großes Refugium geschaffen, in dem sie nun schon seit mehr als zehn Jahren arbeitet. Es besteht aus zwei großen Räumen, die durch einen schmalen Gang mit vollbepackten Regalen verbunden sind. Im Eingangszimmer hängt über einem Balken ein großes motorbetriebenes Zahnrad. Es könnte auch aus einem Maschinenraum stammen. Auf einer Drehscheibe steht eine krumme, schlauchförmige Skulptur aus Stahl. Im hinteren Raum erwarteten uns blau schimmernde Miesmuscheln, durchsichtige Messermuscheln und eine lebensgroße Puppe von Königin Bona. Alle Elemente sind mit Lampen verknüpft, die Kasia Fudakowski nach und nach anschaltet. Die Schatten, die das Licht auf die grau lackierten Holzdielen und die weißen Wände wirft, schimmern wie Wellen im Meer. „Wenn ein Prozent der Küste auf unserem Planeten dafür genutzt werden würde, um Muscheln zu kultivieren“, erklärt die Künstlerin, „dann könnte man damit eine Milliarde Menschen ernähren.“ Muscheln als Nahrungsquelle, als Energiebringer oder als Kunstobjekt – die Weichtiere sind überraschend vielseitig. „Energie hat immer auch etwas mit Kultur zu tun“, ergänzt sie. Die Faszination für unterschiedliche Formen von Energie und deren Limits bilden den Ausgangspunkt für die fünfte Einzelausstellung der Künstlerin.

Kasia Fudakowski Atelier Muscheln
Zwei überdimensionale Messermuscheln aus Plexiglas werden von zwei Glühbirnen angestrahlt. © Catherine Peter

1985 in London geboren, war Kasia Fudakowskis Kindheit von zwei unterschiedlichen Kulturen geprägt. Ihr Vater, gelernter Banker und später als Filmregisseur tätig, hat polnische Wurzeln. Gemeinsam mit ihrem Bruder wuchs Kasia in London auf und lernte die polnische Kultur vor allem durch ihre Großeltern väterlicherseits kennen. So gab es an Weihnachten beispielsweise immer Mizeria, einen polnischen Gurkensalat. Dieser verdankt seinen Namen übrigens Königin Bona, die betrübt durch die arrangierte Ehe und das triste Polen, in dem es kein frisches Obst und Gemüse gab, Tränen über dem Gericht vergoss. Auf Polnisch bedeutet „Mizeria“ Kummer.

Bevor Kasia 2006 nach Berlin zog, studierte sie an der Ruskin School of Drawing and Fine Art der Universität Oxford. Es folgten viele Nebenjobs, fernab vom Kunstbetrieb, darunter auch sechs Monate als Assistentin eines Elektrikers. Seit 2011 wird sie von der Galerie ChertLüdde (damals noch Chert) vertreten. Im Jahr 2017 erhielt sie das Villa Romana-Stipendium. Dass sie sich selbst nicht allzu ernst nimmt und ihre Rolle als Künstlerin oft hinterfragt, beweisen ihre humorvollen, fast schon komödiantischen Arbeiten. Ihre künstlerische Praxis umfasst ein breites Spektrum von Skulptur über Film, Performance bis zum geschriebenen Wort. In ihrem Buch „The Roll of the Artist“ erzählt sie in der Ich-Perspektive aus ihrem Leben als Künstlerin. Mit viel Witz und Sarkasmus berichtet sie von ihrer Familie, gibt Dating-Tipps und erklärt, warum sie für zwei Tage eine Clown-Schule besucht hat.

Kasia Fudakowski Atelier Porträt
Die Künstlerin in ihrem Atelier in Berlin. © Catherine Peter

Für die fortlaufende Filmreihe „Word Count“ hat sich Kasia Fudakowski einen Science-Fiction-ähnlichen Plot überlegt: Die Serie spielt in einer Zukunft, in der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen direkten Zusammenhang zwischen dem dramatischen Anstieg des Meeresspiegels und der Menge der Wörter, die wir sprechen, bestätigt haben. Von da an dürfen die Menschen nur noch 433 Worte pro Tag sprechen. In den neun Folgen, die bis jetzt erschienen sind, führt Kasia uns nicht nur die Absurdität gesellschaftlicher Normen vor Augen, sondern konfrontiert uns mit den Folgen von Ressourcenknappheit. Die Anerkennung von Limits und der Endlichkeit des Lebens ist das Credo ihres kollaborativen und interdisziplinären Projekts „The Palliative Turn“. Dabei arbeitet Kasia Fudakowski mit Künstlerinnen und Designern, einem Klimaforscher, einem Comedian, einem Philosophen und einer Sterbebegleiterin zusammen, die auf Kunst als Instrument der Vermittlung setzen. Im vergangenen Jahr erforschten sie im Kunsthaus Bremen, wie man Methoden der Palliativmedizin auch auf aktuelle Krisen anwenden kann. Was sie erreichen wollen, ist Akzeptanz für das Endliche und die Grenzen der verbleibenden Möglichkeiten. Dies mag deprimierend klingen, doch wenn die junge Künstlerin das Projekt und ihre Gedanken dazu erläutert, erscheint es auf einmal alles andere als düster. Das Ziel ist es, Freude zu haben, an allem, was noch ist.

Miesmuschel Kasia Fudakoski
Eine riesige Miesmuschel aus mit blauer Farbe bemaltem Plexiglas hängt an einer Leine. © Catherine Peter

Die Ausstellung „Gallery Power LTD“ greift das Konzept der Limitierung wörtlich auf. Die Abkürzung „LTD“ steht für das englische Wort „Limited“, limitiert, das in der Wirtschaft auch als Bezeichnung für eine Kapitalgesellschaft verwendet wird. Betritt man den Eingangsbereich der Galerie, in dem Jennifer Chert und Florian Lüdde einen kleinen Bookshop betreiben, blinkt den Besuchenden zuerst der neonfarbene „Misery Salad“ von 2023 entgegen – eine gelungene Anspielung auf Bona Sforzas Mizeria-Salat. Ein Display links an der Wand zeigt an, wie viel Energie bereits verbraucht worden und wie viel noch übrig ist. Dies betrifft nicht nur den „Misery Salad“, sondern auch die sechs weiteren Arbeiten, die sich im nächsten Raum erstrecken. Alle Skulpturen sind elektrisch betrieben. Sie besitzen Motoren oder Lichter, die von den Besuchenden an- und ausgeschaltet werden können. Doch wäre es keine Ausstellung von Kasia Fudakowski, wenn es nicht noch eine selbstauferlegte Hürde gäbe, ein gewisses Risiko, eine Form der Selbstsabotage.

Das Display am Eingang, das an ein Smart Home erinnert, funktioniert wie ein Countdown. Es zählt die Energie in Stunden, Minuten und Sekunden. Das zur Verfügung stehende Kontingent wurde folgendermaßen bestimmt: Wenn alle Schalter die ganze Zeit angeschaltet wären, würde der Strom für die Hälfe des Ausstellungszeitraums reichen. Eine mutige Entscheidung, denn so kann es sein, dass die Werke zum Ende der Schau ausgeschaltet bleiben müssen, weil das Kontingent bereits verbraucht wurde.

Königin Bona Kasia Fudakowski
Königin Bona gemalt von Jan Matejko hängt als Kopie in Kasias Atelier. © Catherine Peter

Persönliche und gesellschaftliche Machtdynamiken verknüpfen Fudakowskis Skulpturen zu einer in sich schlüssigen Geschichte, die nicht nur durch Kabel miteinander verbunden ist. Energie existiert in vielen Formen, das wird bei „Gallery Power LTD“ deutlich. Von Muskelkraft über Muscheln als Nahrungsmittel bis zum Strom aus der Steckdose. Energie bedeutet Macht. Dies wird besonders sichtbar, wenn plötzlich ein großer, an der Decke befestigter Scheinwerfer angeht. Die Arbeit „Out of your hands“ kann als einzige nicht von den Besucherinnen und Besuchern kontrolliert werden. Den Scheinwerfer betätigt Peter Fudakowski, Kasias Vater, mittels einer App auf seinem Smartphone. Das Scheinwerfermodell im Retro-Look, es stammt aus dem Jahr 1985, verbraucht viel mehr Energie als alle anderen Skulpturen. Und somit hat das Publikum doch nicht die volle Macht über das Gelingen der Ausstellung. Kasias Vater, der Strippenzieher im Hintergrund, steht hier für undurchsichtige Machtverteilungen in der Gesellschaft, denen man zum Teil wissend, zum Teil unwissend ausgesetzt ist.

Die Schau mit programmiertem Ende funktioniert gerade deshalb so gut, weil sie uns vor Augen führt, dass alles endlich ist. Es geht um Macht und Energie, um Kultur und Energie. Es sind die kleinen Details, wie die Arbeiten „Reasons to Reproduce“ und „Reasons Not to Reproduce“, die direkt vom Scheinwerfer Peter Fudakowskis angestrahlt werden, die große Fragen aufwerfen. Auf den zwei Messingplatten ist Kasias persönliche Pro-und-Contra-Liste zum Thema „Kinder bekommen“ eingraviert. Die menschliche Fortpflanzung, insbesondere der weibliche Zyklus und das Gebären von Babys, ist eine weitere Form von Energie, die unser Leben bestimmt. 

Service

AUSSTELLUNG

„Gallery Power LTD“

Kasia Fudakowski

ChertLüdde, Berlin

bis 5. April

chertluedde.com

BUCH

„The Roll of the Artist. Volume One“

Kasia Fudakowski

Günther-Peill-Stiftung, Düren & Strzelecki Books, Köln

286 Seiten

books.chertluedde.com

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