Die Künstlerin Doris Salcedo fragt in der Fondation Beyeler in Basel nach unserer Haltung zu den Ertrunkenen im Mittelmeer
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24.03.2023
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 211
Schuld lässt sich nur namenlos ertragen. Wie könnten wir Europäer es hinnehmen, dass Zehntausende auf dem Weg zu uns im Mittelmeer ertrinken, wenn wir zu jedem Schicksal einen Namen kennen würden und, schlimmer noch, zu jedem Namen ein Gesicht? Die anonyme Statistik ermöglicht uns das ungerührte Weitermachen, verhindert eine echte Trauer um die Toten.
Es sind solch unbequeme Gedanken, die einem kommen, wenn man sich mitten im Werk „Palimpsest“ (2013–2017) von Doris Salcedo befindet. Diese Rauminstallation ist bereits jetzt in der Fondation Beyeler zu sehen – als Auftakt zu einer größeren Überblicksschau mit Werken der kolumbianischen Künstlerin, die ab 21. Mai folgen wird. „Palimpsest“ besteht aus hellen Fußbodenplatten, in die Namen in etwas dunklerer Schrift eingelassen sind. Die Lettern sind sehr fein perforiert. Wassertropfen dringen durch die kleinen Löcher nach oben, sie fließen ineinander, verbinden sich zu Linien, schließlich zu Namen. Neue Namen, die die alten überlagern: Sayo Keita. Fatama Mostafa. Sajida Ali. Silbrig glitzern die Buchstaben auf dem hellen Boden, bis das Wasser wieder versickert. Die hierarchielose Auflistung erinnert an Inschriften auf einem Mahnmal, und der Anblick ist beklemmend – als ob wir mit den Füßen auf einem Gräberfeld stünden. Ist das Absicht?
„Wenn ich ein Werk wie ›Palimpsest‹ schaffe, habe ich verschiedene Bilder und Themen, die ich bündeln und in einem einzelnen Bild ansprechen muss“, erklärt Salcedo. „Natürlich ist die Idee eines Friedhofs eines dieser Bilder, aber es ist ein Friedhof, der die Namen der im Mittelmeer ertrunkenen Migrierenden und Flüchtenden weinen muss, weil niemand in Europa – dem Ort, den sie erreichen wollten – diese schrecklichen Verluste betrauert. Diese Opfer sollten nicht anonym sein. Sie haben Namen, die wir nennen sollten, um so ihre unwiederbringliche Abwesenheit zu betrauern.“
Die Schrift aus Wasser, so beschreibt es die Künstlerin, mache das Schicksal der auf dem Meer verschwundenen Menschen bewusst und ihre Abwesenheit zu einer Präsenz in unserer Gegenwart. Im Boden eingraviert seien die Namen früherer Opfer, die von den aktuelleren überlagert werden. Ein Palimpsest, das auch unsere Form der Erinnerung thematisiert. „Diese Namen, die mit einer ›Flut der Tränen‹ geschrieben sind, führen uns – hoffentlich – sowohl die Trostlosigkeit jener Dämmerung vor Augen, in der die Trauernden leben, als auch die Klarheit und die Bedeutung, die jeder Name für die Familien und die Trauernden hat.“ Sayo Keita. Fatama Mostafa. Sajida Ali.
Mehr als 20.000 Menschen sind seit 2014 auf dem Mittelmeer gestorben oder verschollen, schätzt der United Nations High Commissioner for Refugees. Die wahre Zahl ist nicht bekannt und könnte weit höher liegen. Obwohl es in „Palimpsest“ nicht sichtbar wird, hat Doris Salcedo die Lebensgeschichten der aufgeführten Opfer ausführlich recherchiert. Über manche kann man im Internet lesen. Fatama Mostafa war die 28-jährige Ehefrau eines Arztes aus Aleppo, der in der Zeitung Times of Malta Schreckliches berichtet hat: Da Ayman Mostafa im syrischen Bürgerkrieg verhaftet worden war, floh er im Herbst 2013 mit seiner Familie. Er fand eine neue Stelle in Libyen. Dort zeigte sich, dass insbesondere flüchtende Syrerinnen ständig von Vergewaltigungen bedroht waren. Die Mostafas bezahlten für eine Passage nach Europa auf einem großen Boot, seien aber von Menschenschmugglern auf einen klapperigen Fischerkahn gezwungen worden. In libyschen Hoheitsgewässern habe ein Schnellboot die Flüchtenden mehrmals zum Umkehren aufgefordert und am Ende beschossen, sodass ein Leck entstanden sei, erzählt der syrische Doktor. Über Stunden sei ihr Boot gesunken, Hilfetelefonate nach Italien und Malta hätten keine schnelle Rettung gebracht. Sekunden bevor der Kahn kenterte, habe er seiner Frau und seiner kleinen Tochter das letzte Mal in die Augen geblickt, so Ayman Mostafa. Dann kippte das Boot um.
In ihrem Mitgefühl mit den traumatischen Erlebnissen anderer Menschen schont sich die Künstlerin nicht. Das sei aber eher eine unbewusste Entscheidung gewesen, sagt sie. „Ich wusste immer, dass ich Bildhauerin werden muss, und ich habe mich stets auf den Schmerz konzentriert, der um mich herum in Kolumbien so offensichtlich war.“ Ihre kommende Überblicksschau in Basel wird auch die frühe Werkgruppe „Untitled“ (1989–2007) zeigen, bei der mit Zement ausgegossenes Alltagsmobiliar an die Opfer des kolumbianischen Bürgerkriegs erinnert. Als manifeste Leerstellen sind die Möbel ihrer Funktion beraubt. Die jüngere Werkgruppe „Disremembered“ (2014–2021) ist hingegen von Müttern inspiriert, die ihr einziges Kind durch ein Verbrechen verloren haben und in ihrer Trauer von der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Die Textilien bestehen aus zahllosen Nadeln, die mit Seidenfäden verwoben wurden – ein Beispiel, wie handwerklich aufwendig und ästhetisch präzise die Künstlerin und ihr Team vorgehen. So entstehen zarteste poetische Eindrücke. Und doch ist es der Horror dahinter, der die Werke unvergesslich macht.