Interview mit Jenny Holzer

„Ich liebe nicht jeden Satz“

Die Wortmeisterin Jenny Holzer wird in einer großen Schau in Düsseldorf gewürdigt. Ein Gespräch über wahre Sätze und magisches Licht

Von Tim Ackermann
07.03.2023
/ Erschienen in WELTKUNST Nr. 210

Jenny Holzer macht nicht viele Worte, aber die wenigen haben es in sich: „Protect me from what I want“ („Bewahre mich vor meinen Wünschen“) ist ein denkwürdiger Satz von ihr, der 1985 auf einer Reklametafel am Times Square leuchtete. Ende der 1970er-Jahre begann Holzer mit ihren „Truisms“, in denen sie Ideen von Susan Sontag oder Karl Marx zu knackigen Einzeilern destillierte und an New Yorks Wänden plakatierte. Worte begleiten die Künstlerin seither in ihrer Karriere und können in ihren Werken auf unterschiedlichste Materialien treffen. Für den amerikanischen Pavillon auf der Venedig-Biennale 1990, den sie mit einer Vielzahl von farbigen Leuchtschriftbändern und mit gravierten Marmorfußböden gestaltete, erhielt sie den Goldenen Löwen. Viel Beachtung fand ihre Serie „Lustmord“, die von 1993 bis 1995 als Reaktion auf die Vergewaltigung und Ermordung von Frauen in den Jugoslawienkriegen entstand. Die Ausstellung im K21 blickt nun auf verschiedenste Schaffensphasen der 72-Jährigen. Ihre Interviewantworten schickte die Künstlerin im Vorfeld der Schau aus ihrem Studio im US-Bundesstaat New York. Es sind klassische Holzer-Sätze – prägnant und gehaltvoll.

Hatten Sie schon immer die Idee, Künstlerin zu werden, Frau Holzer?

Als ich sehr jung war, erprobte ich, wie es wäre, Künstlerin zu sein, denn ich zeichnete wild, fröhlich, ungehemmt und unerbittlich. Ich fühlte mich darin ermutigt, weil meine Großmutter der Malerin Georgia O’Keeffe in den Fotografien von Alfred Stieglitz ähnelte, die es bis Ohio schafften, und weil die Bildhauerin Louise Nevelson in ihren Porträtaufnahmen würdevoll und furchtlos wirkte und vielleicht wegen dieser Grimmigkeit geschützt war. Später kam ich von meinem Weg ab, eventuell weil es nicht genug Beispiele von Künstlerinnen und Kunstkarrieren gab.

Was erträumten Sie sich sonst zu werden?

Jenny Holzer
Jenny Holzer ist für ihren Umgang mit Schrift berühmt. © Nanda Lanfranco

Ich war während der Fünfzigerjahre und bis in die Sechzigerjahre hinein relativ passiv, was meine Zukunft anging, denn von Mädchen in meiner Familie wurde erwartet, dass sie „gut“ und geduldig seien und auf das Schicksal warteten. Das Warten auf das Schicksal jagte mir ausreichend Angst ein, sodass ich schließlich den Beschluss fasste … etwas zu werden.

Und wie kam es letztlich zum Entschluss, Kunst zu studieren?

Ich gab die Idee auf, Rechtsanwältin zu werden, und erlaubte mir, mit der Kunst zu beginnen: das, was ich auch mit vollem Herzen wollte und was ich hoffte, entgegen aller Hoffnung, verwirklichen zu können.

Sie haben als abstrakte Malerin begonnen. Und dann haben Sie die Malerei für eine lange Zeit aufgegeben. Was war der Grund?

Ich habe damit aufgehört, weil ich eine miserable Malerin war, eine peinlich berührte, schreckliche, frustrierte Malerin, und ich wollte unbedingt etwas tun, was nicht miserabel war. Ich hatte mehr Übung im Schreiben als im Malen, also ging ich über zu Text, um den Inhalt zu tragen, den ich in meinen Kunstwerken haben wollte. Inhalt durch schwarzen und weißen Text war eine Zeit lang befriedigend, doch nach und nach probierte ich weitere und variantenreichere visuelle Elemente aus. Ich respektiere, verehre und jage Abenteuer für die Augen.

Dennoch, warum entschlossen Sie sich, das Bild hinter sich zu lassen und sich auf Wörter zu konzentrieren?

Anfangs zog ich in den meisten Fällen die abstrakte Kunst der figurativen vor, sodass es nur logisch war, das repräsentative Bild loszuwerden. Das Bild wegzulassen vereinfachte den überfordernd erscheinenden Kunstjob ausreichend, dass ich anfangen konnte. Heute bin ich lockerer, und mir schmeckt jede Art von guter Kunst. Wohlgemerkt, Worte erzeugen Bilder vor dem inneren Auge, und die Art, wie Worte eingebettet und präsentiert sind, kann alle möglichen Formen von visuellen Manifestationen und sogar Räumlichkeit entstehen lassen. Beispielsweise kann ich die gesamte Luft eines Innenraums mit farbigem Licht aus harten, pulsierenden elektronischen Wörtern durchfluten. Das Wissen um das Licht verdanke ich Dan Flavin. Was Künstlerinnen und Künstler durch die Abstraktion erringen, lehrt mich manches über Magie, Gefühl, Wirkung, das wunderbare vollkommen Rätselhafte – und gleichzeitig schätze ich das, was explizit und konkret ist. Warum sich für eine Seite entscheiden?

Wenn ich Ihre „Truisms“ lese, fühle ich mich auf grundsätzliche Weise als Mensch wahrgenommen und verstanden.

Tatsächlich? Wie wundervoll und beruhigend.

Woher wussten Sie, dass die Wörter, die Sie erschaffen, einen Widerhall in den Menschen finden würden?

Ich wusste nicht, ob die Sätze Anklang finden und von Dauer sein würden. Ich habe Themen, Überzeugungen und Ausdrücke angeboten, und dann habe ich hoffnungsvoll gewartet. Dann habe ich es wieder versucht. Und noch einmal versucht.

Was ist Ihr Lieblingswort?

Verlässliche Wörter sind unter anderem: protect, joy, abuse, see, power, tender, survive, future, laugh.

Da die philosophischen Gedanken hinter den „Truisms“ aus vielen verschiedenen und manchmal widerstreitenden Quellen entnommen wurden: Kann man davon ausgehen, dass Sie nicht daran glauben, dass jeder einzelne Satz richtig ist – oder tatsächlich „wahr“?

Ich glaube, dass jeder Satz für irgendjemanden wahr ist – oder häufig für eine Menge Menschen wahr. Ich denke nicht, dass jeder Satz „richtig“ ist. Die Frage ist, wie wir – ohne Zwang – umgehen mit manchmal heulenden, oft schwierigen, zuweilen tiefgründigen Glaubenssätzen, die sich widersprechen. Ich liebe nicht jeden Satz.

Wie verändert sich die Wirkung von Worten, je nachdem, welche materielle Form sie in Ihren Werken annehmen? Ich denke zum Beispiel an: auf Papier geschriebene Wörter, wandernde Schrift in Leuchtbändern, in Stein gemeißelte Buchstaben …

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