Henri Matisse in Paris

Im Fokus der Kritik

Das Musée de l’Orangerie in Paris hat rekonstruiert, wie die Zeitschrift Cahiers d’Art ab 1930 dem Künstler Henri Matisse zu neuem Karriereschwung verhalf

Von J. Emil Sennewald
17.04.2023
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 212

Draußen scheint die Märzsonne auf den Place de la Concorde, dessen Obelisk wie ehedem aufragt. Lange Schlangen schwerer Polizeiwagen befrieden Platz und Tuilerien, halten Protestierende gegen die anstehende Rentenreform fern. Vor den Toren der Orangerie, 1852 in einem von Militär umzingelten Paris von Napoleon III. eröffnet, steht eine andere Warteschlange, verlangt bis zu drei Stunden Geduld für Henri Matisse. 1869 in Nordfrankreich geboren und 1954 in Nizza verstorben, ist seine Kunst umfangreich gezeigt und reproduziert worden. Genau hundert Jahre nachdem Matisse seine „Liegende Odaliske mit Magnolien“ malte, 2018 aus der Sammlung von David und Peggy Rockefeller in New York von Christie’s für 80,7 Millionen Dollar versteigert, stehen seine raffiniert-naiv tanzenden Farbflächen, Akte und Porträts, die scheinbar simplen Kompositionen oder von afrikanischen Objekten abgeleiteten Skulpturen für etwas, das heute alle gerne hätten: universell wirkende Singularität.

Genau hier setzt „Matisse, Cahiers d’Art“ an. Am Einzelgenie und dessen bisher wenig gezeigter „Wende der dreißiger Jahre“. Nach seinem einundsechzigsten Geburtstag am 31. Dezember 1930 wird Matisse mit Retrospektiven in Berlin, Paris, Basel und New York gefeiert, erhält den angesehenen Carnegie-Preis. In Frankreich als Postimpressionist und Fauvist geschätzt, empfängt ihn die Welt mit offenen Armen. Jedoch der Meister ist in der Krise. Seit 1928 malt er nur noch mit Widerwillen, spürt den Erwartungsdruck, fürchtet, in einer vergangenen Kunstperiode zu erstarren. Da kommt Christian Zervos.

Der griechische Einwanderer und erfahrene Kunstpublizist mit Drang zu weltweiter Anerkennung hat 1926 die Cahiers d’Art gegründet. Darin inszeniert er ab 1930 Matisse als einen anderen. Als Konkurrent zu Picasso, dem unermüdlichen Sucher der Urformen, genial universellen Schöpfer. Mit einer Art „konservativer Revolution“ überführen die Cahiers d’Art den in Südfrankreich zurückgezogen lebenden Matisse in die internationale Moderne. Konservativ, weil die Cahiers d’Art ein von Georges Braque, Fernand Léger oder Raymond Roussel idealisiertes Nicht-Europäisches als unverbrauchte Wildheit gegen den Bankrott „okzidentaler Zivilisation“ propagieren. Ein Mythos, den die Surrealisten und Dada längst aufgebrochen haben. Revolution, weil es Zervos gelingt, Matisse an die von Leo und Gertrude Stein, von mächtigen Sammlern wie den Rockefellers und vom New Yorker Museum of Modern Art ausgehende Weltumspannung der Kunstmoderne anzuschließen.

Die Cahiers d’Art sind kein engagiertes Kunstforum der Modernen wie der vom Kunsthändler Alfred Flechtheim in Düsseldorf ab 1921 publizierte Querschnitt oder die vom Philosophen Georges Bataille ab 1929 für drei kurze Jahre verantworteten Documents. Eher ähneln sie der 1927 in Berlin von Walter Bondy gegründeten und von J. I. von Saxe 1930 umgetauften Weltkunst, die stärker auf den Kunstmarkt zielte. Christian Zervos setzt didaktisch-erklärend und bisweilen mit spitzer Feder auf die Kombination alter, „primitiver“ und moderner Werke. Er wollte „seine“ Künstler auf internationalem kunstinstitutionellen Niveau „platzieren“. Eine spannende Medien-Kunst-Geschichte, die man bis heute weitererzählen könnte: 2012 wurden die Cahiers d’Art vom schwedischen Sammler Staffan Ahrenberg gekauft. Nun Hauptsponsor der Ausstellung, aber das bleibt im Hintergrund.

Stattdessen laden 27 Gemälde, neun Skulpturen und 13 grafische Arbeiten – darunter beachtliche Leihgaben wie der „Große liegende Akt“ von 1935 aus dem Baltimore Museum of Art oder der einst als Kaminverkleidung für Nelson A. Rockefeller gemalte „Gesang“ (1938) – dazu ein, sich in die Zwischenkriegsmoderne zurückzuversetzen. Über Matisses eigene politische Haltung, über die Beziehung zu Lydia Delectorskaya, ab 1932 Modell vieler im letzten Saal gezeigter Akte, Ateliermanagerin, Partnerin, beinahe Scheidungsgrund, später in der Résistance aktiv, erfährt man wenig. Zu wenig.

„Es kann hier nicht darum gehen, die Forschungen von Matisse im Detail zu studieren“, schrieb Christian Zervos 1931 unter einer Schwarz-Weiß-Abbildung von Matisses 1920 gemalter „Leserin“. Leider hat die Orangerie diesen Ansatz übernommen. Zum Beispiel „Der Tanz“: Eines der vier Kapitel der Schau ist ganz dem bedeutenden Fresko gewidmet, das der Sammler Albert C. Barnes für die Eingangshalle seiner Stiftung in Merion nahe Philadelphia bei Matisse im Herbst 1930 in Auftrag gab. Ein wandgroß projiziertes Video inszeniert den Meister bei der Arbeit. Die in Vitrinen aufgeschlagenen Ausgaben der Cahiers d’Art belegen, wie schon Zervos den Produktionsprozess zu diesem Zweck dokumentierte. Wie suggestiv das funktioniert – bis heute – , wird nicht ausdifferenziert. Stattdessen tauchen im Folgesaal Vorarbeiten, etwa ein Gemälde und erste aus Papier geschnittene Formen aus dem Matisse-Museum in Nizza die Besucher ins Werk. Die düstere Welt im Taumel zwischen Weltwirtschaftskrise und heraufziehendem Nationalsozialismus bleibt außen vor.

Problematisch wird das ebenfalls beim Kolonialismus. Im ersten Saal hängt das über zwei Meter hohe Gemälde „Fenster in Tahiti“, gemalt im Oktober 1935 aus dem Gedächtnis. Der Künstler war schon fünf Jahre zurück von seiner „Grand Tour“ nach Ozeanien, auf den Spuren Gauguins. Die Reise, erfährt man, war „nachhaltig prägend“. Nicht, weil rund vierzig Jahre nach Gauguin etwas anders wäre. Nein: Mit intakter Kontinuität werden „weite Horizonte“ und „das in den klaren Wassern der Südsee gebrochene Licht“ erwähnt, während in einer Videoprojektion Tahitianer im Baströckchen aus Einbäumen springen. Unerwähnt bleibt, dass Matisse 1931 die Internationale Kolonialausstellung an der Pariser Porte Dorée und deren „echte Wilde“ in nachgebauten Dörfern besuchte. Unsichtbar bleibt, wie sehr sich seinerzeit Surrealisten wie Tristan Tzara gegen die Schau wehrten, in den Straßen demonstrierten, zum Boykott aufriefen. Wie stand Matisse dazu, wie Zervos? Die Ausstellung gibt darauf zu wenig Antwort. So sehenswert die Konstruktion des Henri Matisse im Widerschein der Cahiers d’Art ist: Sie entrückt den Künstler dem Jetzt. Dabei strahlt er sehr wohl bis in die Gegenwart, wie man gegenüber im Jeu de Paume in der Thomas-Demand-Retrospektive sehen kann: Matisse ist künstlerischer Pate des Fotografen. Ohne politisch-zeitgeschichtliche Anbindung, ohne institutionskritische Selbstbefragung wirkt die Feier eines bunten Kunst-Matisse in der Orangerie – gerade im Frankreich des Emmanuel Macron – wie Opium fürs Volk.

Service

AUSSTELLUNG

„Matisse. Cahiers d’Art“,

Musée de l’Orangerie, Paris,

bis 29. Mai

musee-orangerie.fr

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