Eine Amerikanerin in Paris: Die raffinierten Abstraktionen von Shirley Jaffe waren lange nur wenig bekannt, jetzt ist ihr bedeutendes Werk im Kunstmuseum Basel zu entdecken
Von
06.04.2023
/
Erschienen in
WELTKUNST Nr. 211
Was leicht scheint, ist nicht immer einfach. Auf den Bildern von Shirley Jaffe tänzeln eigenwillige Formen, schieben sich Balken und Wurmfortsätze gegeneinander, überlagern sich komplementäre Farbflächen und kämpfen um ihre Position. Aber die Poesie der Unordnung trügt. Die Elemente, deren Farben Hierarchien erkennen lassen, unterliegen strengen Kriterien. Ihr System aus Chaos und Ordnung, aus Härte und Weichheit, Harmonie und Ambivalenz ist nicht willkürlich, es will durchschaut werden. Denn schon immer hat sich auch abstrakte Malerei in irgendeiner Weise auf die Realität bezogen. Als Jaffe um 1980 mit der collagenhaften Bildsprache auf ihren künstlerischen Höhepunkt zusteuerte, ging sie bereits auf die sechzig zu. Das Spätwerk überstrahlt noch heute das breite Œuvre dieser Amerikanerin in Paris. Die Retrospektive, die jetzt im Kunstmuseum Basel zu sehen ist und im Pariser Centre Pompidou ihren Anfang nahm, holt sie endlich aus der Zone des Vergessens.
Ein Freund der Malerin verglich die späten Bilder scherzhaft mit der Zirkusshow der einst berühmten Flying Karamazov Brothers, die Salzstreuer, Eisblöcke, Fische und Fackeln durch die Luft wirbelten. Doch mehr als eine Jongleurin der Dinge ist Shirley Jaffe eine Choreografin der Abstraktion. Es gibt keine Botschaft, aber unheimlich viel zu sehen und zu erfahren – etwa über die Einheit der Gegensätze und die Vielschichtigkeit des Existenziellen. Heiterkeit ist das falsche Wort für den Charakter dieser Bilder. Es ist viel mehr eine positive Grundstimmung, die genauso tief in dieser eher stillen, zurückhaltenden Künstlerin geruht haben muss.
Jaffes Leben spielte sich in der Rue Saint-Victor ab. Das Apartment war halb Wohnung, halb Atelier. Dort empfing sie ihre Freunde am liebsten einzeln, um Oberflächlichkeit zu umgehen. Manch einer erinnert sich, dass sie gern mit provokativen Gedankenspielen die Diskussion anheizte. Jaffe war 58, als sie in Chambéry ihre erste Museumsausstellung erhielt; mit 62 nahm das Centre Pompidou sie durch den Ankauf eines Bildes in den Olymp der Kunst auf. Und sie musste 66 werden, bis ihr Werk erstmals in den USA gezeigt wurde. Der Kunstmarkt war nicht immer gnädig mit ihr, aber als sie 2016 starb, galt sie als Legende: die letzte Vertreterin der amerikanischen Künstlerszene an der Seine.
Frankreichs Kapitale war nach 1945 wieder einmal Sehnsuchtsort für Amerikaner. Die Stadt der Surrealisten, die den New Yorkern als Künstleremigranten gerade ein neues Sehen beigebracht hatten, die Stadt von Picasso und Léger, aber auch von Monet und Rodin. Shirley Jaffe, geborene Sternstein, kam 1949 mit ihrem Mann Irving, einem Journalisten, nach Paris. Gerade hatte die 26-Jährige aus New Jersey angefangen zu malen. Als Untermieterin zog sie 1953 ins Atelier von Louise Bourgeois ein. Schon in New York waren sie und die abstrakte Malerin Joan Mitchell Freundinnen. Bald standen beide beim Galeristen Jean Fournier unter Vertrag. Einer der wichtigsten Freunde war zweifellos Sam Francis. Die Franzosen liebten seine am Impressionismus orientierten Farben und die Nähe zur lyrischen Abstraktion. Francis ließ seine guten Kontakte auch für Jaffe spielen, ebnete ihr den Weg zu vielen Gruppenausstellungen. Bald gehörte sie zum Kern der amerikanischen Künstler in Paris. 1956 stellte sie mit ihren Malerfreunden in Düsseldorf aus, 1959 mit Sam Francis und Kimber Smith, einem weiteren engen Freund aus den USA, im Centre culturelle americain. Die Beziehung zu den französischen Informellen blieb dagegen eher kühl. In Gesprächen ließ Jaffe durchblicken, dass die Kollegen die Fremden nicht besonders mochten. Die These des Centre-Pompidou-Konservators und Jaffe-Freunds Frédéric Paul: Die einheimischen Abstrakten fürchteten, die Amerikaner könnten sie mit ihrer Wucht zu „Pygmäen“ degradieren. Die Amerikaner wiederum fühlten sich nicht besonders angezogen vom Schönheitssinn, der belle peinture der Franzosen. Die Distanz der Lager hatte keinen Einfluss auf die Wahrnehmung beim Publikum. Paris wollte die dynamische Kunst der Amerikaner. Und die Amerikaner wollten nichts anderes hervorbringen als ihre entfesselte, oft gewaltige Malerei. Mittendrin die zierliche Malerin mit dem Willen zur großen Geste.
Mit eher erdigen Farben übertrug Jaffe ihre Emotionen auf meterhohe Leinwände, setzte wenige Akzente in Blau und Schwarz. Jeder Pinselstrich ein Ausdruck ihrer selbst, frei und unkontrolliert. Der abstrakte Expressionismus, damals überall als Avantgarde bewundert, hatte in ihr eine leidenschaftliche Verfechterin. Die ersten Risse bekam Jaffes Glauben an die Individualität ihrer Ausdrucksweise 1952. Bei einem kurzen Aufenthalt in New York sah sie zu viele Bilder, die ihren eigenen ähnelten. Inzwischen geschieden und zurück in Paris, wurden ihre Farben heller und lichter, ihre Malerei gewann an Struktur. Sie wurde eine Suchende. Und so weit entfernt die New Yorker Szene von Europa war, die amerikanische Kunst blieb ihr Anker. Es ist ganz offensichtlich, dass ihr Willem de Kooning oder Clyfford Still näherstanden als der Franzose Pierre Soulages oder der deutsche Wahlpariser Hans Hartung. Ihre Bilder aus der Zeit um 1960 erzählen vom inneren Drang einer Malerin, die „herausfinden möchte, was ihre eigene Sprache ist“, so Jaffe in einem viel späteren Interview.
Manchmal muss man weggehen, um wieder bei sich selbst anzukommen. Die Ford Foundation finanzierte Jaffe 1963/64 ein Jahr in Westberlin. Heute lässt sich diese Zeit als künstlerischer Wendepunkt erkennen. Die zweite Generation der abstrakten Expressionisten rebellierte gerade gegen die Malerei ohne Komposition, die sich wie ein absichtsloses Raster über die ganze Leinwand legt. Jaffes Freundin Joan Mitchell mit ihren akzentuierten Farbkonzepten war ein gutes Beispiel für die erwachte kritische Distanz. Jaffe beschrieb das Dilemma, in dem wohl nicht nur sie steckte, als Zerreißprobe: „Ich wusste, wenn ich meine Gemälde kontrollieren wollte, die Geste kontrollieren müsste, was einer intellektuellen Unlauterkeit gleichkäme. Wenn du die Geste nutzt, dann muss sie frei sein. Ich erkannte, dass ich eine andere Methode finden musste.“