Warum sind sich die Malstile von Vija Celmins und Gerhard Richter in den Sixties so ähnlich? Ein Dialog ihrer Bilder in der Hamburger Kunsthalle geht dieser Frage nach
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27.06.2023
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 214
In dieser ganzen aufgedrehten Buntheit der Swinging Sixties brauchte es einfach jemanden, der mal für einen Moment die Farbe rausnahm. Am Ende waren dann gleich zwei Menschen fürs visuelle Runterpegeln zuständig, die sehr ähnlich malten – jedoch ohne das zu wissen, denn sie lebten gut 9000 Kilometer voneinander entfernt: Der Düsseldorfer Akademiestudent Gerhard Richter schuf 1962 sein erstes fotorealistisches Bild „Tisch“ in verwischten Grautönen, und ein Jahr später begann in Los Angeles die Masterstudentin Vija Celmins ebenfalls damit, Gegenstände in nuancenreicher Farblosigkeit nüchtern abzubilden. Zum Verwechseln ähnlich sind sich bis heute die Bildsprachen dieser beiden Kunstschaffenden, sodass man gerade in der Hamburger Kunsthalle das Gefühl hat, das Werk eines einzigen Künstlers anzusehen. Eine kuriose Parallelität zieht sich nicht nur durch die Motivwahl, die Alltagsobjekte, Militärflugzeuge oder Meeresansichten umfasst, sondern betrifft auch Herangehensweisen wie das Malen nach fotografischen Vorlagen oder das Arbeiten in Serien. „Vija Celmins / Gerhard Richter: Double Vision“ führt nun als allererste Ausstellung die in der Fachwelt schon lange diagnostizierte Doppelgängerhaftigkeit der beiden Protagonisten auf der Museumswand vor Augen: Richter gleicht Celmins. Celmins ähnelt Richter. Woher die Parallelentwicklung kommt, erklärt allerdings auch diese Schau nicht.
Vielleicht ist die Antwort von Celmins selbst am aufschlussreichsten: „Ich habe viele Dinge abgelehnt“, sagt die 1938 in Riga geborene Künstlerin, wenn man sie beim Rundgang zu ihren Bildern befragt. „Keine Komposition, keine Gesten, kein Ego“ – das stand Mitte der Sechzigerjahre in ihrem Notizbuch. Der dominierende Abstrakte Expressionismus mit seinem Erhabenheitsfimmel fiel also aus. Im Gegenteil: Gewöhnlichste Gegenstände wurden bildwürdig: „Das rückte damals durch die Pop-Artists in den Fokus, die eine Menge Motive nutzten, die tatsächlich oft sehr humorvoll waren“, erinnert sich Celmins. „Vom kommerziellen Aspekt dieser Arbeiten fühlte ich mich allerdings nicht so angezogen.“ Interesse und gleichzeitige Abgrenzung – das war auch die Haltung des jungen Gerhard Richter. Seine Aktion mit dem Studienkollegen Konrad Lueg „Leben mit Pop – eine Demonstration für den kapitalistischen Realismus“ war doch von skeptischer Ironie durchzogen.
Auch der ähnliche biografische Hintergrund dürfte eine Rolle spielen: Celmins floh 1944 als Fünfjährige mit ihren Eltern aus Lettland und landete später in Amerika. Der 1932 in Dresden geborene Richter lebte als Jugendlicher in der kriegszerstörten Stadt und kam 1961 als geflüchteter DDR-Bürger nach Düsseldorf. Selbst wenn beide in ihren Frühwerken das erblühende Medienzeitalter reflektierten – die zuvor erfahrene Lebensunsicherheit dürfte in beiden Fällen den Wunsch geweckt haben, die fröhliche Fassade der Pop-Art durchschaubarer zu machen, ohne sie ganz einreißen zu müssen.
Läuft man nun durch die Ausstellung, sind die Gemeinsamkeiten fast weniger spannend als die Unterschiede: Richter ist der erzählerischere Künstler. Seine Bilder liefern ihre erweiterte Geschichte oft mit. Der gemalte „Vorhang“ (1965) etwa verweist auf den antiken Malerwettstreitgewinner Parrhasios genauso wie er die Bühnenhaftigkeit eines Bildes an sich betont. Ein Militärflugzeug umgibt Richter mit gesellschaftlichem Kontext, indem er es als ausgerissenes Zeitungsfoto mitsamt dem umgebenden Text malt. Sein „Seestück (See-See)“ von 1970 wiederum ist pure Illusion – denn in dieser Bildcollage besteht der Himmel aus Wogen, die um 180 Grad gedreht wurden. Und sein „Küchenstuhl“ (1965) wirkt durch die Verwischtechnik tatsächlich nur wie die Ahnung eines Stuhls, die Erinnerung an einen Stuhl.
Celmins ist dagegen schon in ihren frühesten Arbeiten eine Künstlerin des Faktischen: Ihr „Hot Plate“ von 1964 hat eine unbezweifelbare Präsenz, die durch das orange Glühen der Heizspirale inmitten der variantenreichen Grautöne etwas Bedrohliches bekommt – ohne dass daraus eine Erzählung entstünde. Als sie dann 1968 zum Bleistift greift, um erste Zeichnungen auf der Basis von Fotos des Pazifischen Ozeans zu schaffen, widersetzt sie sich den Gepflogenheiten des romantischen Genres: Sie nimmt den Horizont heraus und kippt die Blickperspektive in eine Schräglage. Aus deutlicher Obersicht wahrgenommen, ähnelt das Meer nun einer abstrakten Komposition, deren einzelne kleine Dreiecksformen bei längerer Betrachtung immer mehr auffallen und Eigenleben entwickeln. Diese Wellen könnten ebenso gut Berggipfel sein.
Sie habe stets versucht, einen dreidimensionalen Raum in eine zweidimensionale Form zu bringen, die gleichzeitig „illusionistisch und sehr flach“ sei, erklärt Celmins. Dem Bildgegenstand komme dabei keine größere Bedeutung zu. „Das Motiv ist nicht die Kunst“, sagt sie. Ein Satz, den man von Gerhard Richter wohl nicht zu hören bekommen würde. Seine Motive wählt er präzise aus. So wie in der Serie kleiner Gemälde aus den Jahren 1965/1966, in denen jeweils auf einer Leinwand die Illusion eines umgeschlagenen Blattes entsteht. Ein Blatt als Trompe-l’Œil würde Celmins nicht malen, es wäre ihr zu sehr Idee. Und doch erlaubt auch sie sich gelegentlich raffinierte konzeptuelle Spiele mit der Publikumswahrnehmung: Von gefundenen Steinen lässt sie Bronzerepliken anfertigen, bemalt diese so, dass sie dem Original bis auf das kleinste Maserungsdetail ähneln und platziert die beiden täuschend ähnlichen Objekte anschließend nebeneinander.
Kann man dem eigenen Auge trauen? Das ist eine Frage die Celmins und Richter umtreibt. Die Antwort ist nicht schwarz oder weiß. Sondern grau. Für die Farblosigkeit ihrer Arbeiten hat Celmins übrigens eine gute Erklärung: „Ich habe mich gewissermaßen in das Grau verliebt, und dann habe ich so lange einen Bleistift mit seinem grauen Grafit benutzt. Und dann habe ich vergessen, dass es Farbe gibt, weil ich so mit der Form beschäftigt war.“ Zuletzt hat sie wieder angefangen, farbig zu malen, sagt die Künstlerin. Bilder in Blau. Nur ob sie die zeigen will, das weiß sie noch nicht.
„Vija Celmins / Gerhard Richter: Double Vision“,
Hamburger Kunsthalle,
bis 27. August