Das Guggenheim Museum in New York präsentiert die filigranen Formen der deutsch-venezolanischen Künstlerin Gego
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24.07.2023
Auf einem gefalteten Blatt Papier bahnt sich ein Strich seinen Weg. Er teilt sich, wird vom Falz unterbrochen, wird schwächer und stärker – und drängt doch konstant immer weiter geradeaus. „Autobiografie einer Linie“ hat die Künstlerin Gego die Radierung von 1965 genannt, die Teil ihrer großen Retrospektive im New Yorker Guggenheim Museum ist. Sinnbildlich könnte die Arbeit auch für ihr eigenes, von Zäsuren und Richtungsänderungen geprägtes Leben stehen.
Heute zählt Gego, die mit vollem Namen Gertrud Goldschmidt hieß, zu den bekanntesten Künstlerinnen Lateinamerikas. Doch ihre Wurzeln liegen in Deutschland, wo sie 1912 in Hamburg in eine wohlhabende jüdische Familie hineingeboren wurde. Kaum hatte sie ihr Studium der Architektur an der Technischen Hochschule in Stuttgart abgeschlossen, musste sie 1939 vor den Nationalsozialisten fliehen. Anfangs sprach sie kein Wort Spanisch, baute sich aber in Caracas ein zweites Leben auf: In der wachsenden Metropole konnte sie als Architektin Fuß fassen und gründete eine Familie. Mit Anfang vierzig startete sie nochmals neu. Gemeinsam mit ihrem zweiten Mann, dem Grafiker Gerd Leufert, wandte sie sich der Kunst zu.
Anfang der Fünfzigerjahre entstehen erste Aquarelle und Zeichnungen, die sich figurativ mit dem Verhältnis von Landschaft und Raum auseinandersetzen. An den präzisen Linien wird Gegos Ausbildung als Bauzeichnerin spürbar. Nach und nach löst sie sich vom Papier und beginnt, mit Aluminium und Stahl zu arbeiten. „Ich entdecke den Charme der Linie an und für sich“, sagte sie einmal, „sowohl der Linie im Raum als auch der gezeichneten Linie auf einer Fläche.“
Während sich Caracas mit Bildhauern wie Jesús Rafael Soto zu einem Zentrum für kinetische Kunst und Op-Art entwickelt, lässt sich Gego von den bunt flirrenden Fieberträumen ihrer männlichen Kollegen nicht beeindrucken. Sie entwickelt bedacht ihre eigene Formensprache: feine Gebilde aus geflochtenem Draht, die beinahe schwerelos im Raum hängen. Gego vermeidet für sie den Begriff der Skulptur, statt Masse interessiert sie das Durchlässige. Es ist wahr: Gegos Werke sind luftig, leicht, schlicht und fokussiert – und dabei alles andere als zurückhaltend. So filigran, als wären sie mit Bleistift direkt in die Luft gemalt. So genau, dass ihre Schatten eigenständige Zeichnungen in den Raum werfen. Die Hängestrukturen entwickelte sie Ende der Sechzigerjahre zu netzartigen Installationen, ihren „Reticuláreas“, weiter, die ganze Räume füllen.
Steigt man die Rotunde des Guggenheim Museums hinauf, folgt man Gegos Entwicklung chronologisch durch die Jahrzehnte. Frank Lloyd Wrights Terrassenarchitektur ist wie gemacht für ihre Arbeiten, die sich von der weißen Wand scharf abheben und Platz beanspruchen. Streng wirken ihre Konstruktionen dabei nie. Gego schaffte es, trotz ihrer tiefen Faszination für mathematische Formeln, in jede Form Poesie zu legen. Beim Aufstieg entdeckt man neben den Objekten auch Künstlerbücher und Textilarbeiten, denen sie sich am Ende ihres Lebens widmete. 1989, fünf Jahre vor ihrem Tod, begann sie mit Abfallprodukten zu arbeiten: Ihre „Bichitos“, die „kleinen Käfer“, sind kaum faustgroße, verdrahtete Miniaturen, die in sich ganze Weltvisionen tragen. Angesichts dieser Materialvielfalt zieht sich ein roter Faden klar erkennbar durch Gegos Werk: die Liebe zur Linie, die alles verbindet.
„Gego: Measuring Infinity“,
Guggenheim Museum, New York,
bis 10. September