Nach einem werbewirksamen Eklat um seine Bilder zog der Maler Edvard Munch 1893 nach Berlin. Jetzt zeigt die Berlinische Galerie, wie die deutsche Hauptstadt die Entwicklung des Expressionisten prägte
ShareDie Ausstellung beginnt mit einer Enttäuschung. Keiner aktuellen, sondern einer historischen. 1892 beschloss der Verein Berliner Künstler, einen jungen unbekannten Kollegen aus Kristiania (dem heutigen Oslo) zu einer Ausstellung einzuladen. Der Verein folgte dabei einer Empfehlung des norwegischen Malers Adelsteen Normann, der in Berlin populär war und Werke an den Kaiser verkaufte. Vom jungen Kollegen hatte man sich wohl ein modernes Update von Normanns etablierter Skandinavienromantik versprochen – mit Fjordklippen in der Abendsonne.
Die 55 Gemälde, die Edvard Munch nach Berlin schickte, zeigten jedoch gänzlich anderes: Melancholische, gequälte und skizzenhaft gemalte Gestalten auf teilweise als unfertig empfundenen Leinwänden, und dabei keine Spur von Fjordromantik. Der Schock war groß, die Rezensionen der Kritiker harsch, und die vom konservativen Teil des Vereins sogleich angeregte Abstimmung fiel zu Ungunsten des Urhebers aus: Die Ausstellung wurde eine Woche nach der Eröffnung abgehängt. Munch indes freute sich über die „Reklame“. Umgehend zog er nach Berlin.
Die damalige „Affaire Munch“ nimmt die Berlinische Galerie nun zum Anlass für eine Ausstellung in der Gegenwart. Nach gut 130 vergangenen Jahren sind wieder einmal viele Bilder des norwegischen Expressionisten angereist. Skandalrufe werden nicht erwartet. Stattdessen geht man von einem hohen Publikumszulauf aus.
Das von Direktor Thomas Köhler auf „circa eine Million Euro“ gerundete Ausstellungsbudget belegt, dass es für das Museum in Kreuzberg ein gewaltiges Projekt ist. Möglich wird es durch die Kooperation mit dem Museum Munch in Oslo, das allein vier Dutzend Exponate, darunter unterschiedlichste Medien wie Ölgemälde, Lithografie oder Fotografie, ausgeliehen hat. So kann man jetzt in Berlin beispielsweise das wunderbar locker hingemalte und doch von tiefen Gefühlen durchtränkte Bild „Auge in Auge“ (1899–1900) bewundern, in dem das merkwürdige Astloch im Baum wie ein bezeugendes drittes Auge über den Köpfen des unbeholfenen Paars schwebt.
Natürlich hat das Munch Museum in Oslo nicht auf seine bedeutendsten Werke verzichten wollen. Doch da der Maler viele seiner Motive mehrfach gemalt hat, bietet die Tiefe der Sammlung der norwegischen Institution enormen Spielraum für Leihgaben: Von dem so rätselhaften symbolistischen Bild „Die Frau“ – bei dem man nicht weiß, ob es Lebensalter oder Lebenseinstellungen darstellen soll –, ist jetzt in der Berlinischen Galerie nicht die früheste Fassung von 1894, sondern die stärker durchgearbeitete Variante aus dem Jahr 1925 zu sehen. Und bei Munchs gemaltem Eifersuchtsdrama „Melancholie“ ist es genau andersherum: Das Ölbild aus dem Jahr 1893, in dem das Paar auf dem Steg im Hintergrund gut zu erkennen ist, bleibt an der Wand in Oslo hängen. Stattdessen blicken wir nun auf die unvollständig in Bleistift und Kreide ausgeführte Version von 1891, die ein Jahr später in Berlin für den Skandal mitverantwortlich war.
Der Bezug zu Berlin ist tatsächlich das reizvolle an dieser Ausstellung, denn sie zeigt, wie Munch in der deutschen Hauptstadt künstlerisch aufblühte: Hier stieß er 1894 auf die Druckgrafik als Ausdrucksmittel, genauso wie auf die Fotografie, als er sich 1902 die erste Kamera zulegte. Er lichtete sich selbst im Atelier auf einem Reisekoffer sitzend und nackt beim Malen am Strand von Warnemünde ab.
Wichtiger für seine Entwicklung war noch, dass er 1893 zwei Räume in einem Geschäftshaus Unter den Linden mietete und dort in einer Ausstellung erstmals einige seiner Bilder zu einer Serie zusammenfasste. Aus diesem Konzept entwickelte sich später die Idee des „Lebensfries“, der ihn vier Jahrzehnte beschäftigten sollte. Der variable Zyklus über Leben, Liebe und Tod wurde 1902 in der Berliner Secession in seinem größten Umfang gezeigt. Und auch die aktuelle Ausstellung kann immerhin noch eine stattliche Anzahl von Variationen aus dem „Lebensfries“ aufbieten: Neben den bereits erwähnten Werken „Auge in Auge“, „Melancholie“ und „Die Frau“ lassen sich aktuell auch die Ölbilder „Der Kuss“ (1897), „Rot und Weiß“ (1899–1900), „Eifersucht“ (1907), „Vampir (1916–1918)“ sowie die „Madonna“ (1895/1902) und „Angst“ (1896) als Grafiken bewundern.
Alles in allem darf man nach dem Besuch dieser Schau also schlussfolgern, dass Munch sich in Berlin ganz gut aufgehoben gefühlt haben muss. Was er 1902 in dem Ölbild „Leichenwagen auf dem Potsdamer Platz“ auf seine unnachahmlich bipolare Art ausdrückte: Im Zentrum des Bildes steht das traurige schwarze Gefährt. Aber drum herum tobt das bunte Leben.
„Edvard Munch – Zauber des Nordens“
Berlinische Galerie
bis 22. Januar 2024