Mit seinen kraftstrotzenden Großskulpturen bespielt Anish Kapoor den Palazzo Strozzi in Florenz. Dabei geht es auch immer um die Frage, was Realität ist – und was Täuschung
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20.10.2023
Ein Gigant in Florenz: Der 1536 fertig gestellte Palazzo Strozzi hat nur drei Stockwerke, doch ist jede Etage für sich größer als ein üblicher Palast aus jener Zeit. Fünfzehn Gebäude mussten abgerissen werden, um diesem Koloss Platz zu machen. Die Familie Strozzi war am Ende zwar bankrott, aber der Ruhm ist ihr bis heute sicher – vor allem, wenn sich ein ebenfalls zur Monumentalität neigender Bildhauer wie Anish Kapoor des Innenhofs im Erdgeschoss annimmt. Der Documenta-Teilnehmer und Turner-Preisträger beherrscht wie kaum ein anderer die Kunst der kraftstrotzenden Skulpturmonster. Für seine von Arturo Galansino, Generaldirektor der Palazzo Strozzi-Stiftung, kuratierte Ausstellung hat er speziell für diesen Ort einen riesigen weißen Würfel installiert.
Wer diesen „Void Pavilion VII“ (2023) betritt, lässt nicht nur den Trubel der Straße hinter sich. Man steht vor einer Dreifaltigkeit länglicher Hohlräume, die das räumliche Empfinden irritiert. Stammen diese „schwarzen Löcher“ aus einer anderen Dimension? Was passiert, wenn man eine Hand in die Dunkelheit hineinsteckt? Wird man in die Vergangenheit gesogen? Oder in die Zukunft?
Der 1954 in Mumbai geborene und heute in London und Venedig ansässige Bildhauer ist ein Meister darin, die Grenzen zwischen wahr und falsch aufzulösen. Ob Pigment, Stein, Stahl, Wachs und Silikon, er bearbeitet diese Materialien auf dem schmalen Grat zwischen Plastizität und Immaterialität. Farbe etwa ist dann nicht einfach Farbton, sondern wird zu einem immersiven Phänomen. Widersteht man dem physischen Schwindel des Prologs und begibt sich auf die erste Etage, trifft man auf einen massiven Block aus zinnoberrotem Wachs, der sich von einem Gesims entlang einer langen Holzschiene in kaum wahrnehmbarer Geschwindigkeit bewegt.
Die Größe der Installation „Svayambhu“ (2007) ist beachtlich. Der Sanskrit-Begriff steht für all das, was autonom generiert wird, das Gegenstück zu christlichen Acheropita-Bildern, die nicht von Menschenhand gemalt wurden. Die Arbeit suggeriert also, dass es keines Künstlers bedarf, um diesem Kunstwerk eine Form zu verleihen. Es drängt auf wundersame Weise selbst in den Raum, inszeniert seine Geburt in einem chaotischen Akt zerlaufenden Wachses, der mit den rationalen Symmetrien der Renaissance-Architektur kollidiert.
Geradezu heiter wirken dagegen nebenan die rot-gelben Pigmentformen, die aus dem Boden zu sprießen scheinen. „To Reflect an Intimate Part of the Red“ (1981) gehört zu Kapoors frühen Versuchen, Farbe als Form einzusetzen. Dem Konzept begegnet man auch im dritten Raum mit „Endless Column“ (1992). Die Arbeit nimmt explizit Bezug auf Constantin Brâncusis berühmte gleichnamige Skulptur. Eine knallrote Pigmentsäule hat sich bis zur Decke des Raums bemächtigt. Mit flammender Vehemenz stellt sie eine Verbindung her. Zwischen Erde und Kosmos? Zwischen den Besuchern und Kapoors Lust am verblüffenden Effekt?
Im vierten Raum staunt man jedenfalls über die superschwarze Beschichtung von „Non-Object Black“ (2015). Kapoor hat dafür Vantablack verwendet, ein Material aus Kohlenstoffnanoröhren, das mehr als 99,9 Prozent des sichtbaren Lichts absorbieren kann. Das schwärzeste Schwarz überhaupt führt dazu, dass man die schwarze Kugel, die ein integraler Bestandteil der Skulptur ist, fast übersieht. Es folgen noch weitere an den Wänden montierte, das Licht verschlingende Kreise – allesamt perfekte optische Täuschungen, die den Ausstellungstitel „Unwahr und unwirklich“ durchdeklinieren, bis im vorletzten Raum der Ton komplett wechselt. Auf Fleisch, organische Materie und Blut muss man sich in Kapoors Werk immer wieder gefasst machen. Umkreist man „First Milk“ (2015), „Tongue Memory“ (2016), oder „Today You Will Be in Paradise“ (2016), wähnt man sich in einem blutrünstigen Drama menschlicher Verletzlichkeit. „Freud würde einen großen Tag haben“, soll Kapoor 2021 in einem Interview mit der britischen Tageszeitung Guardian über diese zutiefst brutalen Silikon-Leinwände gesagt haben.
Und dann wäre da noch die übergroßen Stahl- und Harzskulptur mit dem Titel „A Blackish Fluid Excavation“ (2018). Handelt es sich um eine vaginale Wunde aus Metall? Obwohl die aktuellen Bezüge zu politischen Konfliktlagen nicht konkret werden, kommt man nicht umhin, angesichts der Innereien und zerschnittenen Körperteile an das Geschehen in der Ukraine oder Israel zu denken. Kapoor sagt dazu selbst: „In dieser Zeit, in der der Ultranationalismus die Welt erobert, gibt sich politische Fiktion als real aus und ist blind für die Geschichte. Das Spiel real/unwirklich – wahr/unwahr ist ein Klischee unserer Zeit“.
Das Fortissimo verfehlt nicht seine Wirkung und doch scheint es, als hätte Kapoor Angst vor seiner eigenen Courage bekommen. Denn der Parcours endet mit einer den Instagram-Reflex reizenden Einladung, dem eigenen Bild mit Sinn für verspielten Perspektivwechsel standzuhalten. Diverse Spiegelskulpturen reflektieren und verzerren die gewohnten Größenordnungen und entführen in eine illusorische Dimension, die den Gesetzen der Physik zu widersprechen scheint. Nach diesen interaktiven Experimenten ganz nach dem Geschmack des Manierismus sorgt „Angel“ (1990) im Finale schließlich für ein letztes Ausrufezeichen. Schieferblöcke unterschiedlicher Form, überzogen mit preußischblauem Pigment, animieren ein letztes Mal zum freien Assoziieren von Gegensätzen: Himmel oder Erde? Masse oder Luft? Unwahr oder unwirklich?
Die Erfahrung von Raum, die Kapoor sinnlich ausreizen möchte, impliziert für ihn stets die Auslotung von Dichotomien. Es lohnt sich, sich von diesem Ansatz auch im Palazzo Strozzi verführen zu lassen. Denn so gewinnt man nicht nur Einblicke in die jahrzehntelange Entwicklung seiner Kunst, sondern auch den Anstoß, über das Hell-Dunkel unserer Zeit zu reflektieren. Über eine Realität, die sich zunehmend entzieht und deren Konturen endlos manipulierbar zu sein scheinen.
„Anish Kapoor – Untrue Unreal“
Palazzo Strozzi, Florenz,
bis 4. Februar 2024