Pirosmani in Basel

Aus dem Dunkel

In Georgien schuf Niko Pirosmani eigenwillig moderne Bilder. Die Fondation Beyeler widmet dem Autodidakten nun eine große Schau

Von Tim Ackermann
17.10.2023

Tbilissi war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine moderne Großstadt, die zur Zerstreuung fast alle denkbaren Vergnügungsstätten anbieten konnte: ein Opernhaus, ein Museum, Kinos oder Caféterrassen wie in Paris. Nur leider keinen Zoo. Und so ist heute unklar, woher der Maler Niko Pirosmani seine Inspiration bekam, als er das wohl eigenartigste Tierporträt der Kunstgeschichte schuf. Manche vermuten, dass er als Vorlage eine Schwarz-Weiß-Fotografie nutzte. Das würde erklären, warum sich seine Giraffe den Naturgesetzmäßigkeiten zuwider in das Fell eines Schneeleoparden gekleidet hat. Gegen ein Lichtbildstudium sprechen hingegen die unrealistischen Proportionen, die kurzen Beine, der dicke Hals. Die Entstehung von Pirosmanis „Giraffe“ bleibt ein Rätsel, was aber nicht stört, denn nun ist sie ja da, vor uns aufgebaut, mit einer unfassbaren Präsenz. Sie dreht uns ihr Antlitz zu. Aus ihren Augen kullern zwei Tränen. Ein kaltes Gefühl der Melancholie kriecht aus dem blauen Hintergrund in jeden Winkel des Bildes. Die Giraffe weint. Und wer ihr dabei zu tief in die Augen blickt, gerät in einen Sog, aus dem man nicht leicht wieder loskommt.

Die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel zeigt Niko Pirosmani. Für viele Besucherinnen und Besucher wird das auch ein Treffen mit einem Unbekannten sein. Geboren wurde Pirosmani 1862 im Dorf Mirsaani im Osten Georgiens, verarmt gestorben ist er 1918 in der Hauptstadt Tbilissi. Und während der Maler in seiner Heimat weithin verehrt wird, ist er in westlichen Kunstgeschichtslehrwerken nicht zu finden. Das ist ein schwerwiegendes Versäumnis. Denn die rund 50 Hauptwerke der Schau, fast alle vom Georgischen Nationalmuseum ausgeliehen, sind das Zeugnis eines so vielseitigen wie erfindungsreichen Künstlers.

Als Maler ohne akademische Ausbildung fand Pirosmani seine Anregungen in assyrischen Basreliefs und orthodoxen Ikonen, Volkskunst, georgischen Silbergefäßen oder touristischen Postkarten. Seine Bilder zeigen lokales Brauchtum, wie die Zechgelage der Kinto genannten Kleinhändler und Lebenskünstler in den Duchans, den oft rappelvollen Tavernen der Stadt, die ebenso Treffpunkte für Künstler, Schriftsteller und Denker waren. Pirosmani malte aber auch neue Phänomene wie Eisenbahnzüge oder die erste Standseilbahn in Tbilissi, dazu Alltagsszenen, Porträts und zahlreiche Tierbilder. „Niko Pirosmani gehört zu den Wegbereitern der Moderne und ist einer der faszinierendsten Einzelgänger der Kunst des 20. Jahrhunderts“ erklärt Sam Keller, Direktor der Fondation Beyeler. „Dieser Maler hat etwas erreicht, was nur Wenigen gelingt: Seine Gemälde sprechen die breite Bevölkerung ebenso an wie die Avantgarde, er ist ein Geheimtipp, ein Künstler-Künstler und gleichzeitig der Nationalkünstler Georgiens.“

Da leider keine Briefe oder Tagebücher von Pirosmani erhalten geblieben sind, haben die Legenden üppige Ranken um seine Person getrieben. Eine der schönsten besagt, dass der Maler 1905 in Liebe zu einer durchreisenden Schauspielerin, der Französin Marguerite de Sèvres, entflammte und alle Rosen in Tbilissi aufkaufte, um sie im Hof ihres Hotels zu verstreuen. Die Angebetete erwiderte die Gefühle nicht und war wohl schon vor der Installation des Blumenteppichs abgereist. Pirosmani verewigte sie in einem Bild: „Die Schauspielerin Margarita«“. Auch das beliebte russische Lied „Eine Million scharlachrote Rosen“ geht auf die Legende zurück. Ob der Maler wirklich erst durch diese Liebe in den Bankrott geriet, mag man bezweifeln. Denn schon zuvor schlug er sich als mittelloser Auftragsmaler durchs Leben.

Die Biografie Pirosmanis liest sich als von Brüchen durchzogen: Der verwaiste Landarbeitersohn, der in der Familie eines adeligen Gutsbesitzers in Tbilissi mit Opern- und Theaterbesuchen vorbildlich erzogen wird, macht sich – nach einigen Jahren Arbeit als Bremser bei der Eisenbahn und mehreren gescheiterten Versuchen, ein Geschäft zu etablieren – ab 1901 als Künstler selbstständig. Pirosmanis Bilder zieren bald Ladenschilder oder die Wände der zahlrei- chen Tavernen in der Stadt. Bezahlt wird er zumeist mit Obdach, Alkohol und Essen. Sein Malwerkzeug und seine wenigen Habseligkeiten trägt er in einem Koffer mit sich herum. Das prekäre Leben ohne feste Bleibe sichert ihm zumindest künstlerische Freiheit, und dank seiner vielen Aufträge wird sein Wirken bald bekannt in der Stadt.

Pirosmanis Eintritt in die Kunstgeschichte Osteuropas vollzieht sich im Frühjahr 1913: Drei junge Studenten aus Sankt Petersburg – der Russe Michail Le-Dantju und die georgischen Brüder Kirill und Ilja Sdanewitsch – haben die Bilder in den Tavernen entdeckt und nach längerer Suche den Urheber aufgespürt. Nun schicken sie vier Werke nach Moskau zur Gruppenausstellung „Zielscheibe“, wo sie neben Gemälden von Nachwuchstalenten wie Natalja Gontscharowa, Michail Larionow, Kasimir Malewitsch oder Marc Chagall hängen. Die russische Avantgarde diskutiert gerade eifrig den „Neoprimitivismus“: Statt symbolüberla- dener Akademie-Malerei mit ihrem Parfümduft bürgerlicher Salons ist jetzt der Rückgriff auf die Volkskunst en vogue, die Wahrheit liegt ab sofort in der erdigen Einfachheit der heimatlichen Scholle.

Vergleicht man Pirosmanis Arbeiten im eigenen Bildgedächtnis mit Gontscharowas „Heuernte“ oder Malewitschs „Parkettschleifern“ (beide aus dem Jahr 1911) sind Ähnlichkeiten in den monumental wirkenden, flächig angelegten Figuren offensichtlich. Analog zur Rolle Henri Rousseaus in Frankreich wird hier ein älterer, vermeintlich „naiver“ Künstler für eine jüngere Generation interessant. Pirosmanis Bilder treffen in diesem Moment absolut den modernen Zeitgeschmack. Wenn Kunstkritiker jener Jahrzehnte Pirosmani als „Primitivsten“ loben, lässt sich das allerdings nur im Kontext der Epoche verstehen. Aus heutiger Sicht verzerren Etiketten wie „primitiv“ oder „naiv“ auf diskriminierende Weise die Wirklichkeit. Denn nur in seltensten Ausnahmefällen kommt es vor, dass Kunstschaffende ihr eigenes Handeln nicht reflektieren. Auch Pirosmanis Kunst ist tatsächlich das Gegenteil von naiv: Man muss nur ganz nah an seine Bilder herantreten – dann erkennt man die Besonderheit seiner Malweise, die äußerst durchdacht erscheint.

Zur Geschichte der modernen Kunst gehört auch die Erzählung der fortschreitenden Formenreduktion. Und Niko Pirosmani entpuppte sich als ein wahrer Meister des Weglassens. Die meisten seiner Bilder malte er auf schwar- zem Wachstuch. Dieser Untergrund intensiviert nicht nur die Leuchtkraft seiner Farben, der Künstler setzte auch das Schwarz gezielt als Kompositionselement ein: Die dunklen Wasserstrudel, die um die Knöchel des „Fischers im roten Hemd“ spülen, sind daher nicht gemalt, sondern Aussparungen. Solche „Negativpartien“ in den Bildern erhalten erst durch die Applikation andersfarbiger Details in der Nachbarschaft ihre Gestalt. Ein Beispiel ist die „Georgierin mit Tamburin“ (1906), bei der Pirosmani zwei schräge weiße Striche links und rechts im Bild hinabzog, um ein schwarzes Kleid aus dem Untergrund zu zaubern. Dessen Saum wird definiert durch zwei darunter gemalte rote Halbkreise, die Schuhe andeuten. Das Kleid ist demnach als Augentäuschung in den Gehirnen der Betrachtenden vorhanden, tatsächlich ist es aber gar nicht gemalt. „Manche Körper bei Pirosmani bestehen eigentlich nur aus Luft“, erklärt Daniel Baumann, ein Kurator der Schau, dieses Phänomen. „Das ist eine brillante Idee und wirklich eine Erfindung von ihm.“

Von den „unvollendeten“ Bildern Paul Cézannes bis zu freigelassenen Leinwandflecken in den Bildern der Fau- ves sind Aussparungen zwar ein wiederkehrendes Phänomen in der Malerei jener Zeit. Aber wohl niemand hat die Leerstellen so großflächig und so radikal eingesetzt wie Pirosmani. Die Technik mag seinem Hang zur Schnelligkeit entsprochen haben. Zeitgenössischen Berichten nach voll- endete er seine Bilder innerhalb weniger Stunden und malte sie teilweise sogar öffentlich vor Publikum. Dabei schuf Pirosmani seine Erzählungen mit erstaunlicher Effizienz. Den Regeln der perspektivischen Darstellung gemalter Räume schenkte er selten Beachtung, und er verzichtete gerne auf Details, wenn sie ihm unwichtig erschienen. Andererseits konnte er sehr viel Liebe und Erfindungsreichtum in die Gestaltung von Bildpartien legen, die ihn interessierten: Bei „Bär in mondheller Nacht“ beispielsweise hat er der Rinde des Baumes auf der linken Seite einen wahrlich borkigen Charakter verliehen. Und ebenso meisterlich ging er bei sei- nem berühmten Bild „Die Schauspielerin Margarita“ vor, als er beim Malen des Kleides den Pinsel mit weißer Farbe sparsam und behutsam über die Oberfläche zog. Es schimmert jetzt der schwarze Untergrund hindurch, und die Struktur des Wachstuchs erzeugt feinste Linienmuster, die den Eindruck von transparenter Spitze suggerieren. So real und verlockend wirkt diese Imitation von Stoff, dass man am liebsten prüfend darüberstreicheln möchte. Auch in an- deren Werken nutzt Pirosmani das Wachstuch, um Texturen anzudeuten, etwa die Schuppen des Fisches in der Hand seines rothemdigen Fängers.

Für heutige Künstlerinnen und Künstler ist Pirosmanis innovative Nutzung des Maluntergrunds ein hochspannendes Thema. Ob der Künstler wirklich die Absicht hatte, den Blick des Publikums darauf zu lenken, wissen wir nicht, da er sich 1916 nach einer Schmähkritik völlig aus der Kunstwelt zurückzog. Die letzten Lebensjahre soll er allein und relativ verbittert in den Tavernen von Tbilissi verbracht haben. Seine Bilder haben indes nichts von ihrer Kraft eingebüßt. Sie bestechen durch ihr ungewohntes Personal, ihr gelegentlich leichte Absurdität, ihren leisen Humor. Alles ist in ihnen offen dargelegt. Und doch lässt sich nichts zweifelsfrei deuten. Das gilt besonders für seine Tierdarstellungen, die zu den reizvollsten Werken des Künstlers gehören: Er malte viele in Georgien heimische Tierarten wie Hirsche, Bären, Kamele oder Ziegen. Es sind stumme Figuren, wir wissen nicht genau, was sie fühlen – aber dass sie fühlen, ist offenkundig. Ihre empathische Darstellung als Individuen mit Persönlichkeit erinnert an zeitgleich entstandene Werke wie die Bilder von Franz Marc oder an Henri Rousseaus hungrigen Löwen im Dschungel, der ja als ein Hauptwerk zur Sammlung der Fondation Beyeler gehört. Auch Pirosmani hat ein Bild vom „König der Tiere“ geschaffen. Sein Löwe hat jedoch den Naturgesetzmäßigkeiten zuwider die roten Augen eines Vampirs. Das ist ein Rätsel, was aber nicht stört, denn nun sitzt der Löwe da und blickt in die Welt. Und wir blicken ihn an und freuen uns darüber, dass es ihn gibt.

Service

AUSSTELLUNG

„Niko Pirosmani“

Fondation Beyeler, Basel

bis 28. Januar 2024

fondationbeyeler.ch

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