Es ist an der Zeit, Frans Hals neu zu entdecken, der das Leben in Spelunken studierte und das Lachen in die Malerei einführte. Nachdem die große Schau in der National Gallery in London und im Amsterdamer Rijksmuseum zu sehen war, feiert die Berliner Gemäldegalerie den barocken Künstlerstar ab 12. Juli
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02.10.2023
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 217
Diese Frauen und Männer, sie lachen, essen und trinken, bis ihnen der Wein und Übermut die Gesichter leuchtend rot färben. Die berühmte Malle Babbe aus Haarlem, die Frans Hals auf dem gleichnamigen Bild aus der Berliner Gemäldegalerie porträtierte, lächelt ungefähr so schief, dass das Einzige, das die Haltung bewahrt, der Bierhumpen ist, den sie in ihrer Rechten hält. Diese Bilder wirken so real und selbst erlebt, dass man lange glaubte, Hals sei einer von ihnen gewesen: ein Säufer und Schlemmer, ein Narr. Einer seiner ersten Biografen, der Maler und Kupferstecher Arnold Houbraken aus Amsterdam, schildert in seiner dreibändigen „De groote schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen“ von 1718/21 eine Anekdote, die sich zugetragen haben soll, als Anthonis van Dyck auf seinem Weg nach London Frans Hals in Haarlem einen Besuch abstatten wollte. An dem Tag, an dem van Dyck, angehender Hofmaler des englischen Königshauses und sechzehn Jahre jünger als Hals, in dessen Atelier vorstellig wurde, war der gerade nicht da. Er musste erst aus einer Spelunke herbeigeholt werden – und war dann angeblich so derangiert, dass er van Dyck nicht erkannte. Das Problem ist nur: Houbraken war als Schriftsteller begabter, als er als Maler war. Die Geschichte stimmt nicht. Sie ist eine Kopie der Künstlerschnurre, die schon Plinius der Ältere verbreitete, in der Antike ging es um die Begegnung der Maler Apelles und Protogenes auf der Insel Rhodos.
Daraus kann man zwei Schlüsse ziehen: Erstens war Hals noch gut fünfzig Jahre nach seinem Tod offenbar so populär, dass man sein Leben gerne auch ein bisschen ausschmückte – was nicht bei jedem die Regel war. Und zweitens umgibt diesen Maler immer noch ein Schleier der Halb- und Viertelwahrheiten, von Unkenntnis und Fehleinschätzungen, der dringend einmal gelüftet werden müsste. Genau das ist das Anliegen der Kuratorinnen und Kuratoren, die die große Frans-Hals-Ausstellung organisiert haben. Nun ist sie in der National Gallery in London zu sehen und geht danach ins Rijksmuseum Amsterdam.
Seit der letzten großen, monografischen Überblicksschau, damals organisiert von der National Gallery of Art in Washington, der Londoner Royal Academy und dem Frans Hals Museum in Haarlem, sind über dreißig Jahre vergangen. In der Zeit hat sich viel getan. Ging es 1989/90 noch oft um reine Zuschreibungen, gibt es inzwischen auch zu den Inhalten der Bilder neue Erkenntnisse – übrigens gerade auch, wenn es um die Trinkerei geht. Und die Macherinnen der aktuellen Retrospektive haben auch einen merkwürdigen Umkehrschub in der öffentlichen Wahrnehmung beobachtet. „Zu Beginn des 20. Jahrhunderts“, schreibt der Kunsthistoriker Jaap van der Veen in seinem Einleitungstext des Londoner, von der Yale University Press weltweit vertriebenen Kataloges, „nannte man Frans Hals in einem Atemzug mit Vermeer und Rembrandt die ›großen Drei‹ des Goldenen Zeitalters der niederländischen Malerei.“
Doch das änderte sich: Rembrandt behielt seinen Status. Vermeers Beliebtheit erreichte galaktische Höhen. Und Hals trat mehr und mehr in den Hintergrund. Vielleicht, so van der Veen, „weil der ockere, impressionistische Farbauftrag, für den er so bewundert worden war, mittlerweile so gebräuchlich war, dass Hals in einem ironischen Twist seinen Ruf als Revolutionär der Kunst verlor“. Vielleicht habe auch das allgemeine Interesse an Porträts, die immerhin zwei Drittel seines Gesamtwerkes ausmachen, im Vergleich zu Landschaften und Alltagsszenen abgenommen. „Diese Ausstellung verdankt sich auch der Überzeugung“, stellt van der Veen fest, „dass Hals in den letzten Jahrzehnten nicht die Aufmerksamkeit geschenkt wurde, die seine Kunst unserer Meinung nach verdient.“ Von mehr als zwei Dutzend Leihgebern aus ganz Europa, den USA und Kanada wurden rund sechzig Gemälde zusammengetragen, darunter monumentale Hauptwerke wie „Familie vor einer Landschaft“ aus dem Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid, die Doppelporträts der „Vorsteherinnen und Vorsteher des Altmännerhospitzes in Haarlem“ aus dem Frans Hals Museum und die beiden Darstellungen der Angehörigen der Miliz des heiligen Georg in den Versionen von 1616 und 1627. Die „Malle Babbe“ ist auch gekommen und – ebenfalls aus Berlin zu Gast – das Bildnis der „Catharina Hooft und ihrer Amme“, der heißeste Kandidat unter den Mitbewerbern um den Ehrentitel des bezauberndsten Kinderbildes aller Zeiten. Das spektakuläre Porträt des auf seinem Stuhl kippelnden Großkaufmanns Willem van Heythuysen von 1638 aus einer nicht näher genannten Privatsammlung darf in London ebenso wenig fehlen wie all die Lachenden, jung und alt, die Knaben mit den Weingläsern, die „Pekelharings“, die fröhlichen Schluckspechte und Musikanten, die Hals so unnachahmlich direkt und scheinbar aus dem Moment heraus auf die Leinwand brachte.
Wie van Dyck stammte Frans Hals eigentlich aus Antwerpen. Bald nach seiner Geburt 1582 oder 1583 flohen seine Eltern während der Belagerung der Stadt durch die Spanier nach Norden und ließen sich wie Tausende andere in Haarlem nieder, einem bedeutenden Zentrum der Textilherstellung. Über seinen Werdegang ist erstaunlich wenig bekannt. Der Maler und Theoretiker Karel van Mander war einer seiner Lehrer. 1612, also relativ spät, wurde Hals in die Lukasgilde von Haarlem aufgenommen. Ungefähr aus derselben Zeit sind die beiden frühesten Gemälde der Ausstellung: das eine, aus der Sammlung des Herzogs von Devonshire in Chatsworth, zeigt als Dreiviertelporträt eine stehende junge Frau in einem purpurfarbenen Kleid, mit einem wertvollen goldenen Gürtel um die Hüfte, einem hübschen Gesicht mit wachem Blick, leicht geöffneten Lippen und auffallend geröteten Wangen. Das andere, aus dem Barber Institute of Fine Arts der Universität Birmingham, gibt einen älteren Mann wieder, ebenfalls stehend im typischen schwarzen Gewand, mit einem Totenschädel in der linken Hand. Beide Bilder sind meisterhaft ausgeführt, aber in ihrer Malweise und Komposition noch vergleichsweise konventionell. Doch es sind keine Schablonen, Masken und Kleiderständer, wie bei weniger talentierten Malern im späten 16. Und frühen 17. Jahrhundert, sondern echte Menschen aus Fleisch und Blut. Und auch die Farbe Schwarz wird bei Hals noch eine Rolle spielen, nicht nur, weil sie Mode bei allen gottesfürchtigen Protestantinnen und Protestanten war – wenige Jahre später malt er das schwärzeste Schwarz der europäischen Kunstgeschichte.
Das chronologisch nächste Bild in der Schau der National Gallery ist dann bereits das fast zwei Meter hohe und mehr als drei Meter breite Vielfigurenporträt der Offiziere der St. Georgs-Schützengilde von 1616 – ein prominenter Auftrag und für Hals eine gute Gelegenheit zu beweisen, was in ihm steckt. Das Bankett zum Abschluss der dreijährigen freiwilligen Bereitschaft, die Stadt Haarlem gegen Angreifer zu verteidigen, ist aufgetragen. Es ist ein Festmahl, aber kein Exzess: Auf den Tellern liegen Brötchen, einer der Freiwilligen hält – dafür dass er gleich den großen Geflügelbraten damit zerteilen möchte – ein seltsam kleines Messer. Das Entscheidende aber ist, dass die zwölf Männer nicht repräsentativ zu Salzsäulen erstarrt sind – sie schauen aus dem Bild, bewegen sich, legen die Köpfe schief, formen mit ihren Händen Gesten, reden miteinander. Der im Vordergrund legt keck die Rechte in die Hüfte, damit man auch ja sein Prunkschwert sieht, und tatsächlich: Er lächelt sogar ein klein wenig. Das hatte es bis dahin in der niederländischen Kunst noch nicht gegeben.
Damit setzte Hals den Ton für alles, was da noch kommen sollte. Seine Art zu malen, die einzelnen Pinselstriche nicht zu lasieren, sondern sichtbar auf der Leinwand stehen zu lassen, war zu seiner Zeit in der Kunst nördlich der Alpen unerhört, sensationell und auch ziemlich unverschämt. Viele Generationen von Betrachterinnen und Betrachtern, von Künstlerinnen und Künstlern haben ihn dafür völlig zu Recht bewundert und nachgeahmt.