Aus Neugier, Architektur vor Ort zu sehen und zu erleben, wurde Irmel Kamp Fotografin. Innerhalb von vier Jahrzehnten entstand ein Werk, das heute endlich seine berechtigte Anerkennung erhält
ShareEin Einfamilienhaus in kubistischer Form an einem grauen Tag im Winter: Von dem Anwesen, das sich der belgische Maler René Guiette von Le Corbusier in Antwerpen entwerfen ließ, gibt es zwei sich ergänzende Aufnahmen von Irmel Kamp. Die erste erfasst das Haus durch eine leichte Überecksicht, die andere zeigt eine Längsseite des Hauses in frontaler Ansicht. Neue Details, im ersten Bild nur halb oder gar nicht sichtbar, sind nun zu erkennen, seien es ein Graffiti an der Grundstücksmauer, die drei Schornsteine oben am Dach oder das Oculus-Fenster, ein markantes Merkmal des Hauses. Die Gegenstände hinter den Fenstern und die zugezogenen Vorhänge lassen erkennen, dass es bewohnt ist. So sieht also das Maison-Atelier Guiette im Jahr 2002 aus, fast achtzig Jahre nachdem es erbaut wurde. „Hier steht sogar unser Volvo“ – die Fotografin deutet auf eines der Fahrzeuge, die im Hintergrund entfernt vom Haus unter Bäumen parken.
Wir stehen in ihrer Berliner Galerie, die bis zum 28. Oktober einige Fotografien ihrer Serie „Moderne in Europa“ zeigt. Mit ihrer analogen Mittelformatkamera reiste Irmel Kamp, geboren 1937, durch europäische Länder, um die zeitgenössische Architektur der 1920er- und 1930er-Jahre in ihrem Ist-Zustand festzuhalten. Sie dokumentierte Wohnhäuser, Theater, Kinos, Tankstellen, Fabriken und Messegelände in Italien, Polen, Tschechien, Deutschland und den Niederlanden. Wie das Beispiel mit dem Auto zeigt, ist ihr Ansatz dabei nicht so streng, wie man es von Architekturotografie gewohnt ist. Vor der Hauswand eines Theaters in Tschechien stehen Mülltonen, ein Kino in Florenz liegt verlassen in einer vertrockneten Landschaft. Mal fällt ein Schatten besonders schön, wie bei ihrer Aufnahme der Tankstelle Purfina, oder das Haus ist von einem Baum verdeckt, wie in ihrer Aufnahme des Huis Schröder in Utrecht.
Irmel Kamps Fotografien zeigen, wie sich die vergangene Zeit auf die Gebäude ausgewirkt und welche Spuren das Leben in ihnen hinterlassen hat. Sie sind Zeugnisse von genutzter und gelebter Architektur, weit entfernt von den idealisierten Abbildungen ikonischer Bauwerke der Moderne. Dass die Bilder aus einem rein persönlichem Interesse und mit großer Neugier entstanden sind, zeigt sich in der von ihnen ausgehenden gelassenen Ruhe. Irmel Kamps Zugang zur Architektur ist geprägt von einer Selbstverständlichkeit, die die Dinge vielleicht nur erhalten, wenn man mit ihnen aufwächst und von ihnen auf natürlichste Weise umgeben ist. Der Großvater war Architekt, der Onkel war Architekt, zu Hause war die Architektur ein gängiges Thema. Am liebsten wäre Irmel Kamp selbst Architektin geworden, was aus finanziellen Gründen nicht möglich war, sodass sie einen Lehrberuf ergriff. In dieser Zeit erlernte sie das Fotografieren und den Umgang mit einem Fotolabor. Durch den Umweg über die Fotografie konnte sie sich nun ihrer ersten Leidenschaft widmen und ihr ein Leben lang nachgehen.
Dass ihr Werk heute von der Kunstwelt Aufmerksamkeit erfährt, ist unter anderem auf das 100-jährige Bauhaus-Jubiläum 2019 zurückzuführen. Während einer Recherche zur Bauhausarchitektur im Werk zeitgenössischer Fotografinnen stieß die Leiterin des Museums für Photographie Braunschweig auf Irmel Kamps umfangreichste Serie über moderne Architektur in Tel Aviv und nahm einige dieser Aufnahmen in die Ausstellung „Visionen der Moderne heute“ auf. Kurze Zeit darauf folgten zwei Einzelausstellungen in Braunschweig und im Leopold-Hoesch-Museum Düren.
Irmel Kamp – Moderne in Europa
bis zum 28. Oktober bei Galerie Thomas Fischer, Berlin