Marcel Duchamp

Ich hab's kopiert!

Wie wichtig der französische Maler und Objektkünstler Marcel Duchamp für die amerikanische Sammlerin Peggy Guggenheim war, zeigt jetzt eine Ausstellung in Venedig

Von Petra Schaefer
16.10.2023

Im Jahr 1972 veröffentlichte die Amerikanerin Marguerite ‚Peggy‘ Guggenheim einen Katalog ihrer umfangreichen Sammlung zeitgenössischer Kunst. In der Rubrik „Kubismus“ führte sie neben Werken von Picasso, Braque, Léger und Gris auch zwei Werke des französisch-amerikanischen Malers und Objektkünstlers Marcel Duchamp auf – das Gemälde „Trauriger junger Mann im Zug“ von 1911 und „Der Duchamp-Koffer“ von 1941/42. Abgebildet und erläutert wird im Katalog nur das Gemälde, in dem sich Duchamp selbst gesehen haben soll „im Zug nach Rouen“, seinem Heimatort. Auch bleiben in dieser Publikation die biografischen Angaben des Malers, mit dem Peggy Guggenheim seit 1932 eine sehr innige Beziehung verband, eher knapp.

Rund fünfzig Jahre später wird jedoch die Bedeutung Marcel Duchamps für die Sammlungsgeschichte der Peggy Guggenheim Collection in Venedig ausführlich beleuchtet: Bis zum 18. März 2024 präsentiert die Ausstellung „Marcel Duchamp und die Verführung der Kopie“ rund 60 Exponate. Und anders als im 1972er-Katalog steht nun der „Der Duchamp-Koffer“ im Mittelpunkt, als Nr. I/XX der ersten ‚Luxus-Serie‘ „de ou par Marcel Duchamp ou Rrose Sélavy (Boîte-en-valise)“. Entstanden in den Jahren 1935–1941 in Paris als eine Arbeit von Marcel Duchamp oder seines weiblichen Alter Ego (Rrose Sélavy kann man im Französischen lesen als „Eros, c’est la vie“/„Eros, so ist das Leben“), umfasst es „ein Original und 69 Artikel“ aus dem Werk von Marcel Duchamp.

Kofferkunst auf der Flucht nach Amerika

Es handelt sich um das vom Künstler selbst meistkopierte Werk. Bis zu seinem Tod fertigte er insgesamt sieben Editionen und 300 Exemplare davon an. „Das erste war bereits für Peggy Guggenheim reserviert, als es noch nicht fertiggestellt war“, erzählt der Kurator und Duchamp-Spezialist Paul B. Franklin. Marcel Duchamp händigte Peggy Guggenheim seine erste „Schachtel im Koffer“ mit einer persönlichen Widmung im Jahr 1941 kurz vor ihrer Flucht aus Frankreich nach Amerika aus. „Es war während des zweiten Weltkriegs“, so Franklin, „und sie transportierte das Kunstwerk als Handgepäck im Flugzeug. So wurde es tatsächlich zu einem reisenden Museum für sie.“ 

Für Marcel Duchamp wurde die Arbeit zu einer Visitenkarte, denn sie beinhaltet neben der „coloriage original“ von „Le Roi et la reine entourés de nus vites (Der König und die Königin, durchquert von schnellen Akten)“ auch Fotografien und Collagen seiner Gemälde und Zeichnungen sowie kleinformatige Reproduktionen seiner Ready-mades wie dem berühmten mit dem Pseudonym R. MUTT signierten Pissoir „Fountain“, das 1917 präsentiert wurde und in der Ursprungsversion als verschollen gilt.

In Venedig wird die „Schachtel im Koffer“ raumgreifend in direktem Bezug zum großformatigen Original „Le Roi et la reine entourés de nus vites“ von 1912 aus dem Philadelphia Museum of Art präsentiert. So kann man das kubistische, mit futuristischen Elementen kombinierte Gemälde zusammen mit der kleinformatigen (Original-)Kopie betrachten. Hier zeigt der Kurator Paul B. Franklin deutlich die fluide Durchlässigkeit der ästhetischen und künstlerischen Praxis von Marcel Duchamp zwischen Original und Kopie.

Italien bereiste Duchamp nach seiner Aufgabe der Malerei in den 1920er-Jahren mit seiner Freundin und Mäzenin Katherine Sophie Dreier, einer amerikanisch-deutschen Malerin. Gemeinsam besuchten sie zeitgenössische Künstler wie Carlo Carrà, einen der Begründer des Futurismus. „Duchamps Beziehung zum Futurismus ist allerdings ein sehr kompliziertes historisches Problem“, so Paul B. Franklin. „Er kannte den Futurismus nicht und er kannte die Manifeste der Futuristen nicht. Aber es kam zu einem Zusammenfluss der Ideen, die zur selben Zeit aufkamen. Eine Art Zeitgeist.“

Tatsächlich gehen Duchamps Gemälde mit futuristischen Elementen auf sein Interesse am Kino zurück und auf sein Bemühen, den Kubismus zu erweitern. Die Werke der Futuristen, von denen einige im nebenan liegenden Hauptgebäude der Peggy Guggenheim Collection ausgestellt sind, sah Duchamp erst ab 1912 in Paris, als seine frühen Werke wie „Trauriger junger Mann im Zug“ bereits entstanden waren. „Es war ein ästhetischer Zusammenfluss, aber keine Beeinflussung“, so Paul B. Franklin.

Erstaunlich ist an der Schau, dass rund die Hälfte der Exponate aus den Jahren 1911–1968 einer venezianischen Privatsammlung entliehen ist. Der Schmuckhändler und Kunstsammler Attilio Codognato, der mit Man Ray befreundet war, sammelt seit den 1970er-Jahren Werke von Marcel Duchamp und zeigt nun erstmals einen Großteil seiner hochkarätigen Duchamp-Sammlung in der Öffentlichkeit. Auch ein Blatt der berühmten Mona-Lisa-mit-Schnurrbart-Editionen „L.H.O.O.Q.“ aus dem Jahr 1964 ist darunter. (Laut auf französisch ausgesprochen, klingt die Buchstabenfolge wie „Elle a chaud au cul“  – eine doppeldeutig-erotische Anspielung, die sich ins Deutsche mit dem Satz „Ihr ist heiß am Hintern“ nur unzureichend übersetzen lässt.) „Es ist ein humorvoller Umgang mit diesem Meisterwerk von Leonardo Da Vinci. Es erinnert die Italiener daran, dass sie eine engere Bindung an Marcel Duchamp haben, als sie denken“ so der Kurator Paul B. Franklin. Die Mona Lisa wurde nach dem spektakulären Raub aus dem Louvre in Paris im Jahr 1914 oft reproduziert und zu einem Phänomen der französischen Populärkultur. Heute ist Duchamps ironischer Kommentar wieder en vogue und wird vermutlich zum meist fotografierten Werk der Ausstellung avancieren.

Im Bookshop gibt es neben dem erstklassigen Katalog der Ausstellung auch eine jüngere Faksimile-Ausgabe von Marcel Duchamps „Schachtel im Koffer“, es handelt sich um die Kopie der Serie D aus der Edition von 1961. Diese künstlerische Biographie ist erschwinglich und eignet sich außerdem hervorragend als Handgepäck.

Service

Ausstellung

„Marcel Duchamp und die Verführung der Kopie“

Peggy Guggenheim Collection, Venedig

bis 18. März 2024

guggenheim-venice.it

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