Francis Alÿs filmt seit Jahrzehnten für ein Videoprojekt spielende Kinder aus aller Welt. Nun erhält er den Wolfgang-Hahn-Preis und zeigt seine Arbeit in einer Ausstellung in Brüssel. Wir sprachen mit ihm über das Aufwachsen im Krieg, seine eigene Kindheit und Luftfußball als Widerstand
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14.11.2023
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 220
Kinderlachen schallt durch den Ausstellungsraum. Das hört man nicht oft im Museum. In seiner fortlaufenden Videoserie „Children’s Games“ dokumentiert der 1959 in Antwerpen geborene Künstler Spiele auf der ganzen Welt. Das Ausstellungshaus Wiels in Brüssel zeigt nun eine Auswahl der oft nur wenige Minuten dauernden und doch sehr wundervollen Filme. Die Schau „The Nature of the Game“ von Francis Alÿs ist ein ebenso einprägsames wie beglückendes Erlebnis: Wir sehen Kinder beim Toben im Schnee der Schweizer Alpen zu. Auf der Leinwand gegenüber saust ein Junge in einem Autoreifen den schwarzen Schlackeberg seiner Heimatstadt Lubumbashi hinab. Ein kleines Mädchen hüpft durch das Gewusel von Hongkong. Und auf einer einsamen Landstraße veranstalten belgische Kinder ein Schneckenrennen.
Der leise Humor in den Arbeiten erinnert an Alÿs’ frühe Werke, die ihn international bekannt machten: In seinem Video „Paradox auf Praxis 1 (Sometimes Making Something Leads to Nothing)“ beispielsweise schob er 1997 einen großen Eisblock durch die Straßen von Mexiko-Stadt – seiner Wahlheimat seit Jahrzehnten –, bis das Eis komplett geschmolzen war. Und bei der Aktion „When Faith Moves Mountains“ versetzte er 2002 in Lima zusammen mit Freiwilligen eine Sanddüne um wenige Zentimeter. Für seine nicht nur poetischen, sondern oft auch politischen Videoarbeiten und Malereien erhält Alÿs am 17. November in Köln den Wolfgang-Hahn-Preis. Wir haben ihn in seiner Schau im Wiels getroffen, wo die „Children’s Games“ zusammen mit Ölbildern des Künstlers gezeigt werden.
Ich mochte das Versteckspiel. Als ich ein Kind war, spielten wir es nachts. Es war also eine ziemlich unheimliche Erfahrung. Die Sucher hatten Taschenlampen. Und aus diesem Aufeinandertreffen von Licht und Schatten ist etwas in meinem Inneren zurückgeblieben: Sie müssen verstehen – ich bin ohne Fernsehen oder Kino aufgewachsen. Meine Familie hat das alles abgelehnt. Aber das Verstecken in der Nacht wurde zu meinem Lichtspielmoment: Ich war im Dunkeln verborgen, beobachtete die Jäger beim Suchen und blickte dabei auf die Schatten und die Projektion von Bildern auf den Bäumen. Sie haben in meiner Fantasie das Kino erschaffen.
Nein, denn die ersten Videos entstanden einfach nur als Entsprechung oder Parallele zu anderen offiziellen Projekten. Den von Ihnen angesprochenen Film „Caracoles“ zum Beispiel drehten wir in der Vorstadt von Mexiko-Stadt, wo wir auch die Videoserie „Rehearsal“ filmten …
Richtig. Genauso war es bei den anderen „Children’s Games“: Der Film „Sandcastles“ bezieht sich auf das Projekt in Lima. „Stick and Wheels“ nahmen wir in Afghanistan vor dem Film „Reel–Unreel“ (2011) auf, bei dem ein paar Jungen in den Straßen von Kabul eine Rolle Film abspulen. Am Anfang war das Filmen von Kindern und Kinderspielen eine Möglichkeit, um mit Menschen in Kontakt zu kommen. Als zeitgenössischer Künstler wird man oft gebeten, einen Kommentar zu Orten abzugeben, mit denen man kulturell nichts zu tun hat. Als ich das erste Mal nach Afghanistan eingeladen wurde, war das Drehen mit Kindern eine Abkürzung, um Kontakt herzustellen und die kulturellen Codes zu verstehen: Was kann ich filmen, was kann ich nicht filmen? Wer stellt sich vor die Kamera für ein Projekt? Wer spricht mit Fremden? Es war ein unkomplizierter Ansatz, um an einem neuen Ort ein Gespräch zu eröffnen.
Irgendwann in den Jahren 2017/2018 – ich hatte damals vielleicht 15 der „Children’s Games“ gedreht – realisierte ich, dass ich eine Zusammenstellung ganz unterschiedlicher Videos geschaffen hatte mit traditionellen Spielen, neuen Spielen und verschiedenen kulturellen Landschaften. Gleichzeitig fiel mir auf, dass die spielenden Kinder immer mehr aus den öffentlichen Räumen verschwanden. Offensichtlich wurde es während der Pandemie. Aber die Entwicklung begann schon früher. Sie hat verschiedene Gründe wie die Omnipräsenz des Autos in den Stadträumen oder der Siegeszug von Social Media. Vor allem aber liegt es an der Angst der Eltern, ihre Kinder zum Spielen auf die Straße zu lassen. All das weckte in mir den Wunsch, diesen Prozess der Veränderung zu dokumentieren, und machte das Projekt umso dringlicher.
Oft sind es Anregungen von Menschen vor Ort. Bei meiner Ausstellung in Kopenhagen im vergangenen Jahr etwa schlugen die Kuratorinnen mir „Kluddermor“ vor.