„Venezia 500“ in München

Was ist ihr Geheimnis?

Die venezianische Renaissance steckt voller Überraschungen: In München präsentiert die Alte Pinakothek eine grandiose Schau mit frisch restaurierten Gemälden und schreibt mit neuen Forschungsergebnissen die Kunstgeschichte um

Von Lisa Zeitz
03.11.2023

Ab Ende Oktober zeigt eine lange vorbereitete Münchner Ausstellung „die sanfte Revolution der venezianischen Malerei“ in all ihrem Glanz und Zauber: zarte Madonnen vor blauen Horizonten, kostbar gekleidete Kurtisanen, lebendig bewegte Bildnisse – Werke von Bellini, Giorgione und Tizian, eigene Bestände und siebzig internationale Leihgaben aus den besten Museen der Welt. Furore machen vor allem Porträts der eigenen Sammlung: Ein auf mehrere Jahre angelegtes Projekt zur Erforschung der rund 200 Arbeiten venezianischer Malerei in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen hat schon jetzt spektakuläre Ergebnisse hervorgebracht. Zuerst zur größten Sensation. Dafür treten wir hinter die Kulissen. Wir haben uns, einige Monate vor Ausstellungsbeginn, in der Alten Pinakothek mit dem Sammlungsleiter der italienischen Malerei und Kurator der Ausstellung, Andreas Schumacher, und Eva Ortner verabredet, der Direktorin des Doerner Instituts, das die Sammlungen konservatorisch betreut und kunsttechnologische Forschung betreibt.

Wir gehen durch die Räume, in denen die Sonderausstellung installiert wird, werfen einen Blick ins eindrucksvolle Depot und steigen dann durch eines der schönsten Treppenhäuser der Architekturgeschichte hinauf zu den Meisterwerken von den Altnieder ländern bis zum Barock. Überraschend steuern wir auf eine Tür zu, hinter der sich eigentlich ein weiterer Museumssaal verbirgt. Er hat sich, solange das angestammte Gebäude des Doerner Instituts in der Neuen Pinakothek gegenüber saniert wird, in ein Restaurierungsatelier verwandelt. Grauer Filz schützt die rote Wandbespannung, aus dem Saal ist eine Werkstatt mit Arbeitstischen, Mikroskopen und Bildschirmen geworden. Zwei Staffeleien stehen zum Vergleich nebeneinander. Auf der einen befindet sich das Bildnis eines jungen Mannes mit langem Haar, der sich spontan zu uns umzudrehen scheint. Es ist ein berühmtes Werk von Giorgione, dem rätselhaftesten Künstler der venezianischen Renaissance, der 1510, noch keine 35 Jahre alt, an der Pest gestorben ist.

Tizian Venezia 500 München
Tizians „Junge Frau bei der Toilette“ aus dem Pariser Louvre. © Thierry Le Mage/bpk/GMN – Grand Palais

Auf der anderen Staffelei steht ein Gemälde, das die Kunstgeschichte kaum je beachtet und nur als anonym venezianisch einge ordnet hat. Auf dem Doppelbildnis blickt ein verträumter Jüngling auf einen korpulenten Mann, der sich ebenfalls scheinbar spontan zu uns Betrachtenden umwendet, als seien wir gerade in eine Unterhaltung geplatzt – das Astrolabium in seiner Hand würde darauf hinweisen, dass er mit dem Jungen in ein Gespräch über den Weltraum vertieft war.

Aus den rund 200 venezianischen Gemälden der Staatsgemäldesammlungen, erklärt Eva Ortner, wurden vorab im Zug des Forschungsprojekts fünfzig zur sogenannten Tiefenbefundung ausgewählt. Bei welchen Werken könnte sich der technologische Aufwand mit Röntgen, Infrarot und so weiter lohnen? Was für ein Glück, dass das Team dieses mysteriöse Doppelbildnis ausgesucht hat. Im 17. Jahrhundert galt es einmal als Werk von Leonardo und hing im „Abclaid-zimmer“ des Kurfürsten Maximilian I., später in der Kammergalerie der Münchner Residenz. Von Leonardo ist es bestimmt nicht, aber steht das Bild jetzt neben Giorgione, weil er infrage kommt? Kunsttechnologische Untersuchungen, Stilkritik und kunsthistorische Forschung gehen in diesem Projekt auf beglückende Weise Hand in Hand.

Bordone
Erst nachträglich wurde Paris Bordones Porträt eines Mannes um die Juwelen erweitert. © Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München

Die junge Restauratorin Anneliese Földes, die zum fünfzigköpfigen Team des Doerner Instituts gehört, zeigt auf einem Bildschirm Röntgenbilder, die verschiedene Pentimenti sichtbar machen, das heißt im Malprozess verworfene Elemente. Besonders spannend ist eine Komposition, die komplett übermalt wurde und jetzt durch einen Röntgenfluoreszenz-Scan geisterhaft in Schwarz und Türkisblau aufersteht. Der Künstler hatte die Leinwand zuerst im Querformat für eine Landschaft mit kleinen Figuren genutzt, eine Komposition, die sehr an Giorgiones »La Tempesta« („Das Gewitter“) erinnert. Dieses bekannteste Werk von Giorgione schlägt, so Andreas Schumacher, ein neues Kapitel der europäischen Landschaftsmalerei auf, indem der Maler „sich von der traditionellen Aufgabe befreite,Landschaft allein als Raum für religiöse oder mythologische Inhalte zu gestalten“. Giorgione entwickele damit „an erster Stelle einen künstlerischen Ausdruck für die schöpferische Natur selbst“.

Könnte es also sein, dass das Doppelbildnis von Giorgione ist? Die Kunsthistorikerin Johanna Pawis, ebenfalls im famosen Team des Doerner Instituts, hat sich eingehend mit der Frage beschäftigt, wer die beiden Dargestellten sind. Offensichtlich sei der Ältere keine Idealfigur, sondern ein Individuum. „Ich habe mich bei den Humanisten der Zeit umgeschaut.“ So stieß sie auf eine Porträtmedaille, die Trifone Gabrieli mit ähnlicher Physiognomie zeigt, Doppelkinn und ziemlich kahlem Kopf. „Hier passt auch das intellektuelle Profil“, sagt sie, „Trifone war als Astronom und Kosmologe für seine Lehrtätigkeit bekannt. Schriften seiner Schüler dokumentieren seine Forschung auf dem Gebiet der planisphärischen Darstellung des dreidimensionalen Himmelsglobus auf die zweidimensionale Fläche.“

Lorenzo Lotto
Lorenzo Lottos Bildnis von Giovanni della Volta mit Frau und Kindern (1547) ist eine Leihgabe aus der National Gallery in London. © National Gallery, London

Dazu passt das Astrolabium, das Instrument, das er in der Hand hat. Zu dieser Hypothese würde auch eine Stelle in den Viten von Giorgio Vasari passen, dem Urvater der Kunstgeschichte. Er war 1568 im Haus der Familie Borgherini in Florenz zu Gast und beschreibt dort ein Doppelbildnis von Giorgione, auf dem Giovanni Borgherini „mit seinem venezianischen Lehrer“ abgebildet war. Dass Trifone Giovannis Lehrer war, ist aus anderen Quellen bekannt. Zwar gib es ein Gemälde in Washington, das seit etwa 100 Jahren mit der Vasari-Stelle in Zusammenhang gebracht wird, doch viel überzeugender ist das Münchner Bild. Johanna Pawis freut sich, dass der Kunsthistoriker Antonio Mazzotta allein stilistisch zur selben Zuschreibung kommt. Im Katalog der Ausstellung schreibt er über Giorgiones „Schulterblick“.

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