Museum Folkwang

Prinzip Hoffnung

Seit Beginn der Moderne denkt die Kunst über ein besseres Zusammenleben der Menschen nach, wie eine Schau im Museum Folkwang in Essen zeigt

Von Tim Ackermann
22.01.2024
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 223

Nichts ist so unterhaltsam wie die Zukunft von gestern. Mit fehlgegangenen Prognosen, unerfüllten Wunschvorstellungen und geplatzten Luftschlössern ist die Ausstellung im Essener Museum Folkwang reichhaltig bestückt. Dem Scheitern vergangener Utopien nicht mit einer klammheimlichen Schadenfreude zu begegnen ist eine Herausforderung. Die beteiligten Kuratorinnen und Kuratoren umschiffen die tückische Klippe jedoch bravourös, da sie den einzelnen Kapiteln der Schau „Wir ist Zukunft. Visionen neuer Gemeinschaften“ genügend Raum geben und so die präsentierten Ideen menschlichen Zusammenlebens in ihren jeweiligen Feinheiten gut verständlich und damit auch nachvollziehbar werden.

Die Zukunft der Lebensreformer

Fünf separate Pavillons verteilen sich luftig in der großen Ausstellungshalle des Museums, jeder von ihnen ist einem einzelnen Kapitel gewidmet. Es beginnt mit der Lebensreformbewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts angesichts der weit fortgeschrittenen Industrialisierung der westlichen Welt ein lautstarkes „Zurück zur Natur!“ propagierte. Frische Luft, freie Liebe, Freikörperkultur und fleischlose Ernährung waren neben einer gesunden Anti-Religiosität die Hauptanliegen des Malers Karl Wilhelm Diefenbach, dem man dennoch einen gewissen Hang zum Mystizismus nicht absprechen konnte, wenn er in Sandalen und Kutte als Vordenker seiner bayerischen Landkommune auftrat.

Diefenbach ist in der Ausstellung mit einem Gemäldefries vertreten, einer heute leider viel zu selten genutzten Erzählungsform. Sein wirklich sehr schöner Bilderreigen „Per aspera ad astra“ (1888–1892) zieht sich über drei Seiten des Ausstellungsraums und zeigt scherenschnittartige Figuren: Kinder, die den Tempel einer Sphinx verlassen, sich mit Tieren zu einer Prozession versammeln, schließlich ins Hüpfen und Tanzen geraten, bis der gesamte Zug einen Felsen erreicht, auf dem der Künstler und seine Familie wartet. Happy End. Den Wunsch nach einem fröhlichen, unschuldigen Naturzustand kann die Kunst jener Epoche noch äußern, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Es sprießen die üppigen Vorstellungen eines Garten Eden, egal ob in Georg Kolbes nackter selbstvergessener „Tänzerin“-Skulptur von 1911/1912 oder im Gemälde „Das verlorene Paradies (Adam und Eva)“ von Ludwig von Hofmann aus dem Jahr 1893. Das Bild lockt mit seliger Zivilisationsferne: kein Smog, keine Tram, kein Gewühl. Kein Wunder, dass dem Menschenpaar zum Heulen zumute ist, denn dieses Idyll haben sie ja verspielt. Es wiederzugewinnen ist Ziel der Lebensreformer.

Visionen neuer Gemeinschaften im Museum Folkwang

Die zwei nächsten Kapitel sind dagegen von bombastischen Bebauungswünschen geprägt, deren Ambition aus heutiger Sicht vielleicht etwas befremdlich wirken: In den Jahren 1917/1918 schlug Bruno Taut mit dem Mappenwerk „Alpine Architektur“ die Umgestaltung der zentraleuropäischen Bergregion durch riesige, lichte Kristallpaläste vor. Es sind wunderbar versponnene Zeichnungen von Hallen, die den edlen Elben aus J. R. R. Tolkiens „Herr der Ringe“ ein würdiges Domizil bieten könnten. Heutige Raumplaner wären allerdings entsetzt über Tauts begleitende Erklärungssätze wie: „Die Schlucht wird überspannt von Bögen aus schwerem farbigem Glas.“ Was für eine unbedachte Flächenversiegelung! Allerdings war die imaginäre Überkronung der Alpengipfel durch die „Kristalline Architektur“, so der Kapiteltitel, auch gar nicht durch Gedanken des Umweltschutzes motiviert.

Man muss Tauts Utopie vielmehr aus dem Zeitkontext des Ersten Weltkriegs heraus verstehen: Er stellte sich vor, dass in seinen hellen Palästen die Menschen verschiedener Nationen zusammenkommen, um Frieden zu schließen. Die ja durchaus interessante Theorie, dass ein harmonisches Gemeinschaftsleben durch geeignete Architektur befördert wird, steckt auch im Kapitel „New Babylon“ – das eine imaginäre Welt auf Stelen zeigt, die sich der niederländische Künstler Constant zwischen 1956 und 1974 in Zeichnungen und kleinen Modellen ausdachte. Ein Netzwerk von miteinander verbundenen Wohnmodulen aus Glas sollte, an Stahlseilen aufgehängt, das Ruhrgebiet überspannen und so für maximale Transparenz und Kommunikation zwischen den Menschen sorgen. So unrealisierbar die Idee war, die Vision ist nach wie vor sehr reizvoll.

Wo bleiben die Utopien heute?

Erdverbundener wirken die beiden Projekte, die unter dem Titel „Hippie Modernism“ zusammengefasst sind: Die Gruppe Superstudio zeigt in ihrem Film „Ceremony“ von 1973 junge Menschen, die inmitten eines Olivenhains in einer nur imaginären Architektur mit wenigen Gebrauchsgegenständen ein Leben ohne Besitz erproben. Eine tatsächlich umgesetzte Vision ist dagegen der „Planetary Dance“ der 2021 verstorbenen amerikanischen Choreografin und Künstlerin Anna Halprin: Seit 1980 wird das gemeinschaftliche Tanzritual immer im Frühjahr am Fuße des Mount Tamalpais in Kalifornien aufgeführt. Ziele des Mandala-ähnlichen Reigens, der mittlerweile in mehr als 40 Ländern getanzt wird, sind Frieden und Heilung, wie Halprin in einem Video erläutert. Der „Planetary Dance“ entspricht mit seiner Naturverbundenheit sowie der Betonung von Achtsamkeit und Kollektivität zweifellos unserem aktuellen Zeitgeist.

Die große Kraft gemeinschaftlichen Handelns, die Halprins Tanz so erfolgreich beschwört – man vermisst sie dann leider in den neuesten Werken der Schau: In Eglė Budvytytės Videoarbeit „Songs from the Compost“ (2020) trotten traurige Hipster zwar in der Gruppe, aber doch auf seltsame Weise voneinander isoliert durch einen Nadelwald. Und auch Yussef Agbo-Olas Pavillon „Oriji: 12-Stein-Frosch-Tempel“ (2023), der vom Duft ausgestreuten Lavendels durchweht ist, genießt man allein mehr. Trauen sich die Prophetinnen und Propheten unserer Gegenwart vielleicht keine kollektiven Utopien mehr zu? Es wäre jammerschade. 

Service

Ausstellung

„Wir ist Zukunft. Visionen neuer Gemeinschaften“

Museum Folkwang, Essen, bis 17. März

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